Eine Annäherung an die visionären Raumkörper von Judith Barry - von Andrea Schellner.

Friedrich Kiesler war ein Schatten seiner selbst. Spindeldürr und kaum 1 Meter 50 groß. Sein Werk warf längere Schatten: 1997 erwarb die Österreichische Friedrich-und-Lillian-Kiesler-Privatstiftung das Archiv des 1965 in New York verstorbenen österreichisch-amerikanischen Architekten, Malers, Bildhauers und Theoretikers. Seither wird im Abstand von zwei Jahren der mit 750.000 Schilling dotierte "Friedrich-Kiesler-Preis für Architektur und Kunst" vergeben. Nach Preisträger Frank Gehry im Jahr 1998 geht die zweite Auszeichnung an die amerikanische Multimedia-Künstlerin Judith Barry. "Zahlreiche konzeptionelle Fäden verbinden das theoretische Denken und künstlerische Arbeiten von Judith Barry mit dem Werk Friedrich Kieslers", so die Begründung der internationalen Jury.

Zustandsbeschreibung: In der Mitte des Raums liegt ein riesiger Würfel. Auf seinen Seitenwänden der überdimensionale Kopf eines androgynen Wesens. Der Blick fällt auf die geschlossenen Augen in einem Gesicht, das zu warten scheint, während ein gleichmäßiges, künstlich verstärktes Atmen den Raum füllt. Doch dann, plötzlich und ohne Vorwarnung, zerbricht die Ruhe und eine ekelerregende bräunliche Substanz ergießt sich über das reglose Gesicht, zeichnet Muster verschiedenster Schattierungen und Formen in die Gesichtszüge. Cut. Mittels Tricküberblendung wird die Verunstaltung gelöscht - um nur Sekunden später die reingewaschene Gestalt erneut zu taufen. Mit Blut, Urin, Fäkalien und Erbrochenem, mit lebenden Grillen, Käfern und Würmern, die über das Gesicht strömen. Das Spiel der Demütigung wiederholt sich siebenmal.

"Imagination, Dead Imagine" nennt Judith Barry ihre Videoinstallation aus dem Jahr 1991, in der sie mittels Computer-Montage die Gesichter eines weiblichen und eines männlichen Models vereinigte und dem Prozeß der Erniedrigung aussetzte (was nach Körperflüssigkeiten aussah, war zwar nur Honig, Suppe und Roter-Rüben-Saft, das schwärmende und krabbelnde Insektenvolk allerdings echt). Der Titel ist der gleichnamigen Kurzgeschichte Samuel Becketts entlehnt, in der der irische Dramatiker einen kargen Raum skizziert, in dessen Mitte ein Mann und eine Frau sitzen und nichts wahrnehmen außer Lichtspiele und Hitze. Inspirationsquelle für Barrys Werk war aber auch J. G. Ballards Erzählung "The Impossible Room", in der ein perfekter Würfel beschrieben wird, "dessen Wände und Decken von dem geformt waren, was nach Kinoleinwänden aussah, auf die das Close-up der Krankenschwester Nagamatzu projiziert wurde". Und ausschlaggebend für "Imagination, Dead Imagine" war nicht zuletzt die französische Philosophin Julia Kristeva, die in ihrem Buch "Powers of Horror" (1982) erklärt, daß Verachtung dann entsteht, wenn die Beziehung zwischen Mensch und Umwelt plötzlich unerwartet und radikal verändert wird.

Trotz der vielen literarischen Querverstrebungen ist die Architektur von Judith Barrys "Imagination, Dead Imagine" in erster Linie ein Aufbau auf ihrem eigenen Fundament. Der menschliche Körper stellt seit ihrem ersten Projekt, "PastPresentFutureTense" (1977), eines der wichtigsten "Werkzeuge" für und in den Arbeiten der amerikanischen Multimedia-Künstlerin dar. Damals experimentierte Barry in einer Sargfabrik in San Francisco, installierte auf der Decke des Gebäudes einen riesigen Trog, der vier Tonnen Sand faßte, die im Zug der Performance auf ihren Körper herabrieselten und diesen schließlich begruben. "Als Studentin setzte ich Architektur mit sozialen Lebensbedingungen gleich, und der menschliche Körper war für mich ebenfalls ein Stück Architektur, das man hinzufügen konnte, um den Raum und die Auswirkungen des Raums zu messen", meint die heute 46jährige Künstlerin. "PastPresentFutureTense" bezeichnet Barry als "eine Performance über die bruchstückhafte Natur der Realität", den Sand als "Ausdrucksmittel" für diese fragmentarische Wirklichkeit.

Judith Barry ist Visionärin - in ähnlicher Weise, wenn auch mit anderen, moderneren Stilmitteln, wie Friedrich Kiesler Visionär war. Als ihn Peggy Guggenheim 1942 beauftragte, ein Konzept für die Ausstellung "Art of the Century" zu erstellen, hing er die Bilder der teilnehmenden Künstler einfach ohne Rahmen, ignorierte die Entrüstung und das Erstaunen aller und erklärte einfach: "Das gerahmte Bild an der Wand ist zu einem dekorativen Nichts ohne Leben und Bedeutung geworden. Sein Rahmen ist zugleich Symbol und Vermittler einer künstlichen Dualität zwischen 'Vision' und 'Realität' oder zwischen 'Motiv' und 'Umgebung'. Sein Rahmen ist eine Barriere, über die der Mensch aus jener Welt, in der er wohnt, in jene fremde Welt blickt, in der das Kunstwerk wohnt."



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Kurzbio
Judith Barry wurde 1954 in Columbia, Ohio geboren. Ihre Ausbildung als Künstlerin umfaßt die Bereiche Architektur, Kunst, Literatur, Filmtheorie und Computer Graphics. Ihre Arbeiten wurden seit 1977 in zahlreichen Ausstellungen präsentiert, darunter im San Francisco Museum of Modern Art, dem Whitney Museum in New York; der Biennale in Venedig, dem MOMA in Oxford sowie der Hayward Gallery in London. Judith Barry schreibt außerdem Kritiken und Essays für zeitgenössische Kunstpublikationen. Sie lebt und arbeitet in New York.
Am 23. November 2000 wurde Judith Barry in Wien mit dem 2. Österreichischen Friedrich-Kiesler-Preis für Architektur und Kunst ausgezeichnet.