Inhalt Prolog Die letzte Streife Der Traum Angst Morgentod
BABY, THE LAST DANCE

Der Wagen fegte über die steil abfallende Autobahnabfahrt nach unten und brachte somit die "Kannibalinnen" dem Unabwendbaren wieder ein Stück näher. Näher jedenfalls, als es Sue augenblicklich lieb war. Wie immer, wenn Hoffnung und Zweifel einander die Fresse polierten und der Kampf mit einem klaren Unentschieden endete. Die Hoffnung klebte wie Fliegenleim in Sues Gehirn. Aber auch die Angst. Einen Augenblick lang wurden ihre Gedanken von einer Ampel abgelenkt, die auf Rot gesprungen war. Die kurze Zeitspanne reichte, um Hannahs Ausdünstung wieder bewußt wahrzunehmen. Säure stieg Sue in die Mundhöhle. Sie kurbelte das Fenster ein Stück nach unten und spuckte aus. Jetzt hatten sie die Stadtgrenze erreicht und tauchten in das Kaff ein, wie in schmierigen Schlamm, der sich aufgetan hatte, um Sue und die Truppe zu fressen. Schon in wenigen Stunden würden die "Kannibalinnen" ihren heiligen Tanz vollführen, um Sue auf das Festmahl einzustimmen. Sie wollte Orloffs Blut, und sie wollte es noch in dieser Nacht.

Wie immer in solchen Lokalen roch es nach billigem Schnaps und saurem Schweiß. Orloff war nicht unten an der Bar gewesen - wie es sonst seine Art war -, um die Truppe zu empfangen. Wie üblich hatten die Mädels um zehn mit der Show angefangen: tanzen, tanzen, tanzen und immer wieder tanzen, bis auch dem letzten Arschloch alternierend ein nächtlicher Tagtraum oder der Ständer kam. Diejenigen unter ihnen, die noch den Großteil des Wochenlohns in der Tasche hatten, drückten in eine Möse ab; die anderen schossen ihren Schleim ins Scheißhaus oder - einfacher noch - in die Unterhose. Kam ganz darauf an, ob das Eheweib daheim auf die Wäsche wartete oder schon längst mit einem aufmerksameren Stecher abgehauen war. Wie auch immer - die überschüssige Energie mußte abgeführt werden, um das System nicht ins Wanken zu bringen: schinden und geschunden werden, ficken und gefickt werden, saufen und von all den Lichtern und Mösen trunken gemacht werden, die das Kaff zu bieten hatte. Die Babes an der Bar nuckelten an ihren, in allen erdenklichen Farben schimmernden Drinks. Sie rülpsten, griffen potentiellen Freiern an die Nüsse, und manche von ihnen furzten ganz ungeniert, weil die Bässe der Subwoofer ohnehin jedes Nebengeräusch übertönten. Sie lächelten so kokett wie zahnlose Bälger im Bonbonladen, und vor allem stanken sie nach einer Überdosis Parfüm. Sie stanken wie der Puff, in dem die "Kannibalinnen" Jahr für Jahr die letzte Show der Tour abzogen. Pünktlich im September, wenn die Tage kürzer und die Sehnsüchte länger geworden waren.

Es dauerte nicht lange, bis Caruso hinter Sue auftauchte, um ihr im nächsten Augenblick, so laut es ihm mit seiner Fistelstimme möglich war, ins Ohr zu kreischen: "Er will dich sehen!" Sue nickte, wandte aber den Blick nicht von den tanzenden Mädels ab, die oben auf dem Podest gemäß der streng geregelten Arbeitsteilung die Seele ohne das Fleisch feilboten. Unten grölten sich die Typen einen ab: "Go, Baby, go!" Sollte sie doch alle die Pest holen! Der treibende Beat kroch in Sues hinterste Gehirnwindungen und löste dort eine Assoziationskette aus, die durch Carusos schneidendes Organ brutal unterbrochen wurde: "Was is´n jetzt!?"

Sue signalisierte ihm mit einem Handzeichen, daß sie bereit war, ihm zu folgen, wenn er vorgehen würde. Im Schädel der Holzpuppe war nun kein Platz mehr, die Gedanken von vorhin weiterzuspinnen. Sämtliche mentalen Ressourcen wurden gebraucht, um Körper und Geist auf die kommende Konfrontation vorzubereiten. Ihre Hand fuhr prüfend in die Umhängtasche. Die Glock war an ihrem Platz. Mit einer kaum merklichen Handbewegung entsicherte sie die Waffe und folgte Caruso, der bereits flink auf die Treppen zusteuerte, die hinauf in die heiligen Gemächer führten. In nicht ganz zehn Minuten würde der fette Gott da oben in den Himmel fahren, denn in der Hölle war kein Platz für ihn...

Sue blieb keine Zeit, ihre Gedanken zu ordnen. Emotionale Emissionen hatten sich von der Magengrube aus im ganzen Körper verbreitet und suchten verzweifelt nach einem Auslaßventil. Ihre Hand zitterte. Vor ihr auf dem Boden lag Orloff in einer Blutlache. Seine Gedärme hingen aus der Bauchhöhle. Er atmete nicht mehr. Aber was noch viel besser war: Er sagte nichts mehr - und somit blieben diesmal auch die kleinen, aber feinen Messerstiche in die Seele der Holzpuppe aus, und in weiterer Folge auch die Gewissensbisse und die eitrigen Narben. Die Freiheit durfte nun jeden Kubikzentimeter für sich beanspruchen; allerdings erst auf der anderen Seite der Tür. Als Sue schnell (und doch nicht zu schnell) die Treppen zum Club hinunterging, kamen ihr wieder die Neonbuchstaben der Sektierer in den Sinn: "Du entgehst Deinem Schicksal nicht!" Was war ihre Bestimmung? Wie würde die sich jetzt, nachdem alles vorüber war, offenbaren?

Unten standen die verschwitzten Mädels an der Bar, blickten stumm auf ihre Piña Coladas. Hannah, die Dünne, hätte wahrscheinlich lieber ein Bier vor sich auf dem Tresen stehen gehabt, doch in einer Bar wie dieser gehörte es sich nicht, auf Kosten des Hauses billigere Getränke als nötig zu konsumieren.