Fortsetzung...

EVOLVER: Rydell ist neben Yamasaki, dem Studenten der existentiellen Soziologie, die einzige Figur, die in allen drei Büchern auftaucht. Und Rydell kommt, genau wie Sie, aus dem Süden der USA...
Gibson: Ja.

EVOLVER: ... aus Süd-Carolina. Rydell ist Ihnen also von seinem Wesen her am nächsten?
Gibson: Mhm, hmm... Rydell ist mein innerer Redneck. Ja, er ist der Teil von mir, der ganz aus dieser Kultur stammt. Für mich ist es signifikant, aus dem Süden von Amerika zu stammen. Als ich geboren wurde, war der Süden wie ein Ort, an dem die Zeit stehengeblieben war. Weil der Süden in den Fünfzigern und zu Beginn der 60er Jahre so war, als würde man in den 40er oder 30er Jahren leben, oder noch früher, am Ende des letzten Jahrhunderts, so um 1890. Gleichzeitig konnten wir im Fernsehen zusehen, was sich in den 50ern auf der Welt alles ereignete. Doch das Leben dort war damals so zurückgeblieben. Heute hat sich das geändert. Die Medien und die Wirtschaft haben die gesamte Region drastisch verändert. Es war wirklich merkwürdig. Könnte ich meine Erinnerungen an 1959 für Sie auf einen Bildschirm bringen, würden Sie glauben, was Sie da sehen, spielt sich im Jahr 1930 ab. Die ganze Region litt unter der Wirtschaftskrise und - politisch betrachtet - immer noch unter den Folgen des Bürgerkriegs. Wie sich die Gegend im Laufe meines Lebens zu etwas komplett anderem entwickelt hat und neugeboren wurde, begreife ich bis heute nicht. Rydell lebt auf seine Art ebenfalls in einer ganz falschen Zeit. Als ein Bewohner der nahen Zukunft hat er doch die Seele des schlichten, einfachen Typs aus dem Süden der 50er Jahre.

EVOLVER: Ja, aber für den Leser ist es natürlich einfacher, sich mit Rydell zu identifizieren als mit Laney...
Gibson: Stimmt.

EVOLVER: Der Leser stellt die gleichen Fragen, wie sie Rydell an Laney richtet: "He, was passiert hier eigentlich, und was soll ich machen?" Und Laney ist so cool, zu sagen: "Ich weiß es auch nicht, aber tu´s einfach!"
Gibson: Das Charakteristische an Rydell ist, daß er geradezu ahnungslos ist. Er begibt sich andauernd in Situationen, die er überhaupt nicht kapiert, und hat dadurch die Lizenz, dumme Fragen zu stellen. So muß der Leser sich nicht blöd vorkommen, denn Rydell erledigt das für ihn. Das ist sehr bequem. Außerdem ist seine grundsätzliche Unfähigkeit, etwas richtig zu machen, sehr nützlich für den Autor, da er die Geschichte am Laufen hält. Wenn nichts passiert, wird Rydell es schon wieder vermasseln, und sofort gibt es eine neue Komplikation.

EVOLVER: Wie verhält es sich mit Silenco, dem stummen Jungen? Was befähigt ihn, Dinge zu tun, die die Alten, Laney und Harwood, nur aufgrund des Drogenexperiments hinkriegen?
Gibson: Nun, der Junge ist ein Autist. Das wird nur nie deutlich gesagt. Die Reinheit seiner Obsession zieht ihn dahin, wo ihn seine Obsession hinlockt. Er wäre nicht fähig, Harwood oder irgendjemand anderen im Cyberspace aufzuspüren. Er findet Harwood nur, weil der die Armbanduhr, die Futurematic, bei sich hat; die sucht Silencio eigentlich. Er startet durch und verfolgt Harwood in dieses unmögliche Loch im Cyberspace. Ich mochte die Idee, daß Harwoods fieser Plan am Ende am Talent eines behinderten Jungen scheitert. Alles Wissen und all das Geld der Welt kommen am Ende nicht gegen diesen kranken Jungen und sein einziges, einsames Talent an.

EVOLVER: Warum spielen Uhren und Zeit so eine wichtige Rolle in dem Buch?
Gibson: Uhren sind mechanisch, vordigital. Und ihr Mechanismus, der Mechanismus jeder mechanischen Uhr - das ist sehr wichtig - hat sich seit Jahrhunderten nicht verändert. Nichts hat sich an Uhren wirklich geändert, mit Ausnahme der Form, die ausgefallener ist, und der etwas besseren Verpackung. Ein wirklich bemerkenswertes Stück Technologie. Eine mittelalterliche Uhr hat im Grunde den gleichen Mechanismus wie eine heutige Rolex. In einem gewissen Sinn sind wir mit der Rolex am Ende einer Entwicklungslinie angekommen. Letztendlich ist sie doch nur ein Gebrauchsgegenstand. Keiner braucht wirklich eine Rolex, sie funktioniert auch nicht besser als eine Quarzuhr um fünf Dollar. Sie ist zu einem lebenden Fossil geworden. Und das hat für mich funktioniert, weil ich das Buch am Ende des Jahrtausends schrieb, als Millenniums-Geste sozusagen. Es ist mein "Y2K-Buch". Die Uhren und das Bild der vergehenden Zeit gaben mir ein gutes Gefühl. Zeit vergeht, aber das Leben geht weiter. Ich weiß auch nicht genau; auf die symbolischen Aspekte dieser Dinge kann ich erst nach den Fakten schauen, genau wie alle anderen Leser, die sie interpretieren.



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