"Don´t leave home" scheint diesmal die Devise M.Guignols zu lauten. Sein neuer Ausflug in die Geisteswelt führt ihn ausschließlich durch Buchseiten - und das Wohnungslabyrinth von EVOLVER-Autor Thomas Ballhausen. Dieser hat sich die Ausführungen seines Gastes pflichtbewußt notiert.

Es ist ein lauwarmer, keineswegs erfrischender Wind, der zum Fenster hereinweht und M. Guignol kurz von seiner Lektüre aufblicken läßt. Draußen zeichnet sich ein weiterer Sonnenuntergang ab, der ihm nichts bedeutet; zumindest soweit hat er seinen Schopenhauer gelesen und verstanden. Er richtet seinen unbarmherzigen Blick wieder auf das aufgeschlagene Buch vor ihm: die Lebensgeschichte des namenlosen Protagonisten fesselt ihn mehr, als er sich eingestehen möchte. Das geschilderte Elend, das nur einen Steinwurf entfernt lauert und dort anderen widerfährt, kommt ihm ein wenig vertraut vor. Er stellt sich einen Stein in seiner Hand vor, wie er ihn in der Hand wiegt, fast liebevoll über die Oberfläche streicht, ihn wie eine etwas zu klein geratene Waffe hin und her bewegt. Er lehnt sich zurück, versucht sich von der nahezu allgegenwärtigen grünen Fee ablenken zu lassen, doch seine Gedanken wandern wieder und wieder zu den Schauplätzen seiner quälenden Erinnerungen zurück: "Spätestens dann, wenn jeder zweite Ort zur Referenz für ein und dieselbe traurige Erinnerung wird, spürt man, daß man schon zu lang in der Stadt ist." Der Satz klingt noch länger nach; auch als er mit gedanklichen Steinwürfen das nahende Unglück auf Distanz hält. Er weiß um die Ungenügsamkeit dieser Versuche, das ins eigene Leben regelrecht einbrechende Unglück zurückzudrängen.

Die Ehrlichkeit, die sich in der Lektüre dieses Romans von Nersesian wiederfindet, erschreckt ihn. Er versucht, sich des Buches zu besinnen, das auf seinem Nachtkästchen dahinschlummert; will die in diesem schmalen Band versammelten Geschichten in einen passenden Kontext setzen. Einzig die Geschichten Robert Coovers, die hierfür sicher Pate standen, kommen ihm in den Sinn. Daß es aber eine Verfilmung brauchte, um Coover überhaupt erst bekannt zu machen, und daß dieser erst sterben mußte, damit sich eine breitere Leserschaft für seine Werke fand, scheint ihm schon symptomatisch. Guignol denkt an die Tage nach Burgess´ Tod zurück - und wie es scheinbar nie passender schien als damals, den "Fürst der Phantome" zu lesen. Er steht auf, geht durch die leeren Zimmer seiner Wohnung und greift nach besagtem Buch auf dem Nachtkästchen, einem Kurzgeschichtenband von Patrick Roth, auf der Suche nach Passagen, die ihn über seine eigenen Gedanken hinwegtrösten können.

Später, auf der Terrasse, lehnt er am Geländer, die Lichter der Stadt unter sich verfluchend. Er kann die Sterne nicht sehen, und das Wissen um ihr Vorhandensein reicht manchmal nicht aus.

M. Guignol empfiehlt:
Bei dem Wunsch, sich am Elend anderer Leute zu ergötzen oder sich dadurch aufzuwerten, wirkt ein Blick in Arthur Nersesians "f-train blues" (Europa-Verlag) wahre Wunder; ist auch die Abschlußpassage an ein Massenpublikum gerichtet, das diesen Roman wohl eher nur zufällig in die Hände bekommen wird. Die erwähnte Nachtkastenlektüre ist Patrick Roths "Die Nacht der Zeitlosen" (Suhrkamp), eine Sammlung detailreicher, verspielter Einblicke in das Los Angeles der Gegenwart. Akustische Bereicherung bietet die Bowie-Sammlung "All Saints. Collected Instrumentals 1977-1999" (EMI); wem das aber zu gediegen ist, der greife ruhig nach der neuen Björk-CD "Vespertine" (One Little Indian Records). Was genau ist denn nur mit diesen Isländern los?



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