Im Wiener Kabelwerk gastiert bis Dezember der "Faust"-Marathon: 12.111 Verse in zwanzig Stunden. Hält man so etwas überhaupt aus? Chris Haderer hat die Probe aufs Exempel gemacht - und überlebt.

Samstag, 15. September 2001, 14.20 Uhr. Das zweite Vorstellungswochenende im "Faust"-Marathon. Um das Kabelwerk irren viele Leute in Staatsoperntracht herum, die den Eingang nicht finden. Der ist auch nicht dort, wo er laut Eintrittskarte sein sollte (dem Geruch nach befindet sich in der Oswaldgasse 33 eher das Bezirksurinal), sondern - nach einer kleinen Wanderung über die lokale Gstettn, wo viel Hopfen wächst, und den Parkplatz - auf der anderen Seite des Gebäudes. Zum Glück geht auf dem Weg zum Kulturereignis aber niemand verloren, denn wer sich in "der Tragödie zweiter Teil" (der erste ist dank handfester Handlung ja praktisch ein Volksstück) zurechtfindet, der findet auch früher oder später durch den 12. Bezirk.

15 Uhr. Die "Zueignung" (Verse 1-30) findet im Stehen statt, gelesen von Otto Schenk, dem Special-guest des Abends, der danach nicht mehr gesehen wird. Dafür erfahren wir sogleich, warum Peter Steins "Tour de Faust" als Marathon bezeichnet wird. Unter Szenenwechsel versteht Stein nämlich nicht nur den Umbau der Bühne - stattdessen scheucht er uns gleich in eine andere Halle des Kabelwerks. Das echte Kulturpublikum, das den direkten Zusammenhang von Bühnennähe und Kartenpreis gewöhnt ist, kommt mit der freien Sitzplatzwahl überraschend gut zurecht - auch wenn manche Schöngeister dadurch auf Plätzen landen, auf denen sie schon als Studenten nicht sitzen wollten.

Der alte Faust, gespielt von Bruno Ganz, kommt als ziemlicher Grantscherben daher, dem nichts recht ist und dessen Hauptbeschäftigung darin besteht, darüber zu jammern, daß er die Welt nicht versteht. Der Pakt mit dem Teufel, der Faust das Leben lehren soll, ist zwar literarisch wertvoll, aber eher unspektakulär. Faust beschwört die Geister, kommt mit Mephistopheles ins Geschäft, besucht Auerbachs Keller, in dem wir der lokalen Dorfjugend beim Saufen begegnen, und landet schließlich in der Hexenküche, wo er verjüngt werden soll. Peter Stein inszeniert mit Hang zum Märchenhaften; er gibt sich als solider Handwerker, der kein im Text verstecktes Bild dem Zufall überläßt. Die Szenarien stimmen, auch wenn es mehr ums Schauen und Staunen geht als um eigene Phantasie - zumal sich Stein die Publikumsgunst auch durch deftige Scherze unter der Gürtellinie sichert (und damit dem alten Goethe, der mit ausgewählten Obszönitäten ebenfalls nicht sparsam war, um nichts nachsteht).

Endlich, um 19.35 Uhr, beginnt die Gretchen-Tragödie; die einzige Story mit Hand und Fuß, die im ersten "Faust"-Teil zu finden ist. Während man Bruno Ganz den alten Faust locker abnimmt, hat es Christian Nickel als Faust junior von Anfang an schwer. Als aufgeputzter Schönling ist sein Mienenspiel den ganzen Abend über so ausdrucksvoll wie das einer Klotüre - zumal sein hart an der Peinlichkeitsgrenze angelegter Auftritt als verjüngter Faust (um 18.15 Uhr in der Hexenküche) unangenehm deutlich in Erinnerung bleibt. Unter Blitzlichtgewitter verwandelt sich Bruno Ganz nach Einnahme des Hexentranks (verabreicht von Elke Petri, die aber nichts mit der gleichnamigen Schale zu tun hat) und unter Zuhilfenahme einer Drehtüre in Christian Nickel, der mit gespreizten Gliedmaßen stocksteif auf der Bühne steht. Man schaut ihn an und will ihm irgendwie helfen, denn offenbar hat der Mann Krämpfe (was wir aber unterlassen, weil an dieser Stelle die 80 Minuten lange "große Pause" beginnt).

Dann: Dunkelheit, Applaus (für Bruno Ganz und Robert Hunger-Bühler) und eine intensive Begegnung mit der lokalen Gastronomie. Die Konsequenz aus der Lage des Kabelwerks mitten im Nirgendwo: Wer essen will, muß wandern - entweder zur Pizzeria am Anfang der Oswaldgasse (15 Minuten), zum Gartenhotel Wimberger (290 Schilling für "Faust"-Besucher) oder zum Heurigen 5er-Pflug (1,5 Liter Zweigelt). Die Foyer-Gastronomie bietet außerdem Schmankerln wie beispielsweise ein Paar Frankfurter mit Senf und Kren um 55 Schilling. Wer nach der 3198 Schilling teuren Eintrittskarte finanziell ein wenig ausgeblutet ist, sollte schon bei der Anreise einen Versorgungsstopp beim Billa in der Oswaldgasse einplanen.

Der Plot des restlichen Abends: Der junge Faust, der neurotisch durch die Welt stolpert, verknallt sich in das hübsche Gretchen, das von Dorothee Hartinger ohne Unterwäsche dargestellt wird. Von da an geht es Faust auf Faust (oder Schlag auf Schlag, wenn Ihnen das lieber ist). Gretchens Mutter wird mehr oder weniger versehentlich vergiftet, damit Faust jr. die Kleine heftig schwängern kann. Nachdem ihr erboster Bruder im Duell erstochen wurde, bringt Gretchen das Neugeborene um und widersetzt sich - halb wahnsinnig - im Kerker, wo sie auf ihre Hinrichtung wartet, der Befreiung durch Christian Nickel (was wiederum verständlich ist).



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