Fortsetzung...

Das alles klingt zwar nach einem recht beschaulichen Thriller; allerdings wird die Story schon von Goethe dermaßen durch die Blume erzählt, daß man sie kennen muß, um sie zu erkennen. Stein inszeniert das Verwirrspiel zwar routiniert, illustriert das Geschehen aber nicht, sondern konzentriert sich ausschließlich auf den Text, ohne zu provozieren. Wer versehentlich einnickt, was nach einem langen Tag leicht der Fall sein kann, versäumt außer Dorothee Hartingers Nacktszene und den mit blanken Ärschen auf Besen reitenden Hexen der Walpurgisnacht (die ihre Besen, im Gegensatz zu Harry Potter, mit der richtigen Seite nach vorne halten) praktisch nichts. Peter Stein zeigt uns weder Beischlaf noch Kindsmord; das müssen wir uns alles selber zusammenreimen (wobei die Reclam-Sonderausgabe der Tragödie, die kostenlos verteilt wird, doch recht hilfreich ist). Um etwa 22 Uhr verabschiedet sich die irre Margarete mit dem bekannten Vers 4610 vom Leben: "Heinrich! Mir graut´s vor dir." Und mit der Erkenntnis, daß es 1828 schon Vornamen gab, gehen wir dann ein wenig müde, aber doch recht glücklich nach Hause.

Sonntag, 10.12 Uhr. Der erste Akt der zweiten Tragödie. Die Zuspätgekommenen sitzen im Foyer und schlürfen Kaffee. Jetzt ist Selbsthilfe angesagt, daher lesen wir uns bis 11.25 Uhr gegenseitig die Verse 4615-5985 vor (Anmutige Gegend; Kaiserliche Pfalz, Saal des Thrones; Weitläufiger Saal mit Nebengemächern). Bis zum Karnevalsbeginn um 11.45 Uhr sind wir wieder auf dem Letztstand; hauptsächlich geht es um Geldbeschaffung, denn der Kaiser ist Pleite. Mephistopheles führt sich als neuer Hofnarr ein und offenbart dem Kaiser einen Weg aus der Finanzkrise, nämlich Wertpapiere. Außerdem soll der nun von Johann Adam Oest dargestellte Teufel auch noch das antike Paar Helena und Paris dazuholen - der Kaiser will nicht nur Geld, sondern auch Unterhaltung. Helena und Paris werden in den Rittersaal gebeamt, in dem auf jeden "Faust"-Marathonläufer ein Wachauerlaibchen, ein Stück Käse und ein Sechzehntel Rotwein warten, dann beginnt die Mittagspause (75 Minuten).

Nachdem im ersten Akt recht viel über Sinn und Unsinn der Welt geredet worden ist, ohne daß Faust aber schon einen rechten Eindruck davon bekommen hätte, was die Welt im Innersten zusammenhält, greift Goethe im zweiten Akt ins pralle Leben und fährt eine beinharte Fantasy-Story auf. Im Laboratorium erschafft der Faust-Schüler Wagner (dargestellt von Justus Carriére) einen Homunkulus, während Faust, wieder einmal verknallt, sinnierend herumhängt und von Helena träumt. Ich träume auch, und zwar von Roger Corman, dem Grandseigneur des B-Movies, wie er aus der Tragödie zweiter Teil ein handverlesenes Horrordrama filtert. Dann wäre der "Faust" zwar nicht mehr der "Faust" - aber spannend allemal.

22 Uhr. Showdown. Nochmal werden schwere Geschütze aufgefahren - auch wenn die Pointen nicht immer richtig treffen. Die kichernden Lemuren, die mit elektronischen Micky-Maus-Stimmchen quieken, wollen beispielsweise überhaupt nicht zum Rest der Show passen. Im Endspurt gleitet Stein doch noch kurz ins Peinliche ab. Fausts Tod bekommt durch die Lemuren, die offenbar aus einem deutschen Teletubbies-Versuchslabor stammen, einen banalen Beigeschmack - möglicherweise ein bewußter Kontrapunkt zur überfrachteten Sinnsuche, aber wer kann schon in den Kopf eines Regisseurs schauen? Die Schlußszene in den Bergschluchten hätte jedenfalls auch Steven Spielberg nicht farbenfroher in Szene setzen können. Von der Decke schwebt eine Lichtwolke herunter, die entfernt an ein außerirdisches Raumschiff erinnert. Die Agenten Gottes sind da, um Faustens "Unsterbliches" dem Teufel zu entreißen und in den Himmel heimzuholen. Am Ende kommt ein poetisches Gefühl auf, wenn uns die Engel quasi im Zeitraffer durch Faustens Lebensstadien führen und uns im Chor das Resümee der zweitägigen Sinnsuche rezitieren: "Das Ewig-Weibliche/zieht uns hinan."

In der plötzlichen Stille vor dem Applaus ist Faust auf seinen Planeten heimgeflogen.


Faust, der Tragödie erster und zweiter Teil

Ort:
Kabelwerk, Oswaldgasse, 1120 Wien
Preis: öS 3168,- (Sa./So.), öS 550,- (Einzelvorstellung am Do.)
Laufzeit: bis 16. 12. 2001, jeden Sa. und So. (an Donnerstagen gibt´s Einzelvorstellungen).
Karten: Bundestheaterkassen, Vereinigte Bühnen Wien (01/588 85), Kartenbüro Jirsa (http://www.viennaticket.at)
Regie: Peter Stein
Bühnenbild: Ferdinand Wögerbauer ("Faust I"), Stefan Mayer ("Faust II")
Faust: Bruno Ganz
Junger Faust: Christian Nickel
Mephistopheles: Johann Adam Oest, Robert Hunger-Bühler, Christine Oesterlein, ein schwarzer Königspudel
Gretchen: Dorothee Hartinger
Helena: Corinna Kirchhoff



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