Print_Jörg Blech - Die Krankheitserfinder

Patient wider Willen

Pharmafirmen entwickeln Medikamente gegen Leiden, die es gar nicht gibt; Werbeagenturen propagieren Krankheiten, die nur auf dem Papier existieren. So werden wir Patienten.    10.10.2003

Es war einmal ... ein Arzt namens Knock, der in einem französischen Bergdorf namens Saint Maurice eine Praxis übernehmen sollte. Weil es sich bei den Einwohnern des Kaffs um ein durch und durch gesundes Völkchen handelte, standen Knocks Kasse und Behandlungszimmer leer, weshalb sich der Arzt eine listige Strategie ausdachte: Er ließ den Dorftrommler verkünden, der neue Doktor lade alle Dorfbewohner zu einer kostenlosen Konsultation ein, um die "unheimliche Ausbreitung von Krankheiten aller Art einzudämmen, die seit einigen Jahren in unserer einstmals so gesunden Region um sich greifen".

Die Leute kamen - und Knock diagnostizierte prompt seltsame Symptome, worauf das Dorf kurze Zeit später einem einzigen Lazarett glich. Der Arzt triumphierte: "Jeder gesunde Mensch ist ein Kranker, der es noch nicht weiß." Diesen Leitspruch aus Jules Romains Dreiakter "Knock oder der Triumph der Medizin", der 1923 in Paris uraufgeführt wurde, dürfte sich die Pharmaindustrie mehr als nur zu Herzen genommen haben.

"Heute ist es kein verführerischer Landarzt", schreibt Jörg Blech in seinem kritischen Report "Die Krankheitserfinder". Stattdessen ist eine "ungleich größere Macht angetreten, den Menschen die Gesundheit auszutreiben: die moderne Medizin. Ärzteverbände und Pharmafirmen, häufig von Patientengruppen unterstützt, predigen uns eingangs des neuen Jahrhunderts eine Heilkunst, die keine gesunden Menschen mehr kennt."

Das Fazit des Buches erfährt man schon im ersten Kapitel: "Für jede Krankheit gibt es eine Pille - und immer häufiger für jede neue Pille auch eine neue Krankheit." Wie beispielsweise das "Sisi-Syndrom", das 1998 vom Pharmaunternehmen SmithKline (heute GlaxoSmithKline) "entdeckt" wurde, um den Absatz von Antidepressiva anzukurbeln. Das sogenannte Krankheitsbild: Vom Sisi-Syndrom befallene Personen sind schwerstens depressiv, kompensieren ihre krankhafte Niedergeschlagenheit aber durch Hyperaktivität. Die mit einer Kampagne für Sisi-gerechte Antidepressiva beauftragte Werbeagentur Wedopress fand umgehend heraus, daß alleine in Deutschland drei Millionen Menschen an dem Kaiserinnen-Leiden erkrankt seien. Ein gutes Geschäft für GlaxoSmithKline - bis Mediziner des Uniklinikums Münster das Sisi-Syndrom als Erfindung der Industrie entlarvten.

Die moderne Pharmawelt ist voll von derartigen Beispielen. Im Mittelpunkt der Gesundheitsindustrie steht nicht mehr die Behandlung tatsächlich vorhandener Leiden - im Wettlauf an der Börse ist vielmehr die Uminterpretation normaler menschlicher Lebensprozesse (Sexualität, Altern, Nicht-Glücklichsein etc.) zu Krankheitsbildern, die medikamentiert werden können, die Hauptsache. Statt dem Dorftrommler in Romains Stück übernehmen nun Werbeagenturen die Einführung neuer Krankheiten, für die glücklicherweise auch immer ein neues, passendes Medikament zur Hand ist.

Detailreich und engagiert beschreibt der Biologe und "Spiegel"-Journalist Blech die Methoden der Pharmaunternehmen, Ärzte und Patienten für ihre neuen Umsatzstrategien möglichst subtil einzunehmen. Mit anderen Worten: Auf Kosten der Volksgesundheit lügen Pharmafirmen, daß sich die Balken biegen, um ihre zum Teil vollkommen überflüssigen Medikamente zu verscheuern - während die gleichen Unternehmen an echten Herausforderungen, wie beispielsweise die Entwicklung wirksamer Krebs- oder AIDS-Therapien, scheitern. Krankheit ist zum Industrieprodukt geworden.

Diese Erkenntnis ist angesichts der Tatsache, daß sich immer mehr Ärzte (vor allem aus dem Bereich der plastischen Chirurgie) nicht mehr den Hippokratischen Eid, sondern den Vertrag mit ihrer Werbeagentur gerahmt an die Wand hängen, nicht neu. Jörg Blechs Report macht die dahinterstehenden Mechanismen, die ansonsten meist nur als Gerüchte kursieren, jedoch deutlich und nachvollziehbar. Ein interessantes Buch, nach dessen Lektüre einem die zynische Wahrheit klar wird: Hippokrates lebt hier nicht mehr.

Chris Haderer

Jörg Blech - Die Krankheitserfinder

ØØØØØ

Wie wir zu Patienten gemacht werden


S. Fischer Verlag (Frankfurt a. M. 2003)

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