Stories_Mark Stewart/Pop Group

Pop und Politik

Mark Stewart beeinflußte die Musikwelt nachhaltig - zu einer Zeit, als politische Inhalte und Parolen noch nicht tabu waren im Pop. Das Label Soul Jazz Records hat ihm nun ein Denkmal gesetzt.    18.08.2005

Wir schreiben das Jahr 1978. Der erste große Punk-Hype ist gerade abgeebbt, New Wave steckt noch in den Kinderschuhen und elektronische Musik beschränkt sich zum Großteil auf Sheffield und die dort ansässigen Cabaret Voltaire. Das britische Empire liegt danieder, Margareth Thatchers rigorose Tory-Wirtschaftspolitik läßt das Proletariat verarmen, treibt ganze Ortschaften in die Arbeitslosigkeit.

Es sieht fast so aus, als hätte das liberale Establishment gewonnen. Eine Kohlengrube nach der anderen wird stillgelegt, der Rezession folgt Depression, und an eine prosperierende Zukunft glaubt keiner mehr. Schon gar nicht die Jugend: Punk ist bereits zur reinen Attitüde erstarrt, in der Londoner Kings Road tummeln sich arbeitslose Jugendliche mit hippen Irokesenfrisuren, grell geschminkt und mit Sicherheitsnadeln durch die Nasen, nicht zu vergessen die obligatorischen Sticker der Sex Pistols auf ihren Lederjacken. Die Touristen dürfen sie gegen eine milde Gabe fotografieren.

Inmitten dieses Vakuums tritt aus heiterem Himmel ein Musiker auf den Plan, der mit giftiger linksradikaler Polit-Agitation und aufrührerischen Texten Furore macht. Die aus Bristol stammende Pop Group rund um den charismatischen, damals noch blutjungen Frontman Mark Stewart liefert mit Slogans wie "Who Guards the Guards?/Who Polices the Police?" das richtige Brainfood für eine völlig desillusionierte Generation. Zorn ist sinnvoller als Verzweiflung. Und verglichen mit der Pop Group waren die Sex Pistols nichts anderes als vom Staat geduldete Hofnarren.

Auf ihren drei Alben "Y", "We Are Time" und "For How Much Longer Do We Tolerate Mass Murder?" propagieren sie nichts Geringeres als den Systemumsturz und die Etablierung einer neuen Weltordnung. Die Single "Rob A Bank" wird sofort zu einem Anarcho-Hit und die Konsumgesellschaft brutal ins Visier genommen: "We are all prostitutes/Everyone has their price/And you too will learn to live the lie/Aggression, Competition, Ambition, Consumer Fascism/Capitalism is the most barbaric of all Religions".

Musikalisch ließen - und lassen - sich Pop Group nur schwer zuordnen. Genau genommen treffen hier mehrere Musikstile aufeinander: Wave, Post-Punk, viel Funk und verschrobener Dub-Reggae. Stewarts Gesang klingt schrill, verzerrt, aber nie distorted. Ein Zeitzeuge erinnert sich, daß Mark stets einen kleinen Plastiksack über das Mikro stülpte, mit dessen Hilfe diese einzigartige schnarrende Stimme zustande kam. Wenn man sich vorstellt, wieviel Pitch-Shifting und sonstiger digitaler Aufwand heute besonders im Bereich des Grunzer-Metals betrieben wird, um Stimmen zu verstellen, kann man angesichts solch simpel-intelligenter Tricks nur schmunzeln.

 

Nachdem die Pop Group niemals Ambitionen zeigte, die Hitparaden stürmen zu wollen, löste sie sich 1981 auf (und zerfiel u. a. in Bands wie Rip, Rig And Panic mit einer damals völlig unbekannten Sängerin namens Neneh Cherry).

In London geriet Mark Stewart unter den Einfluß von Mixmaster Adrian Sherwood, wodurch eine der fruchtbarsten Verbindungen der englischen Musikgeschichte entstand. Stewart war schon immer ein eifriger Anhänger jamaikanischen Dub-Reggaes, dem Sherwood auf seinem Label On-U-Sound zu neuen Höhenflügen verhelfen sollte.

Das Line-up des dort beheimateten Dub Syndicate ist dann auch identisch mit dem von Stewarts neuer Band Maffia, mit der er 1982 das legendäre Album "Learning to Cope With Cowardice" (On-U-LP 024) einspielt. Hier kreuzen sich die unterschiedlichsten Stile und Inhalte: Wie auf einer irren Achterbahn jagen Bilder eines totalitären Überwachungsstaates, politisch linke Texte, Voodoo-Magie, Anlehnungen an William Blake und William S. Borroughs sowie Donna-Summer-Disco vorüber; eine Mischung kranker Emotionen, Paranoia und Angst, die aus allen Poren dringt. Höhepunkt des Albums ist "Jerusalem": Stewart gibt ein Statement zur englischen Nation ab und räumt nebenbei auch gleich mit Copyright-Gesetzen auf, als ein unlizensierter Tapeloop einer Chorversion des Songs ein- und ausgeblendet wird.

Als 1985 "As the Veneer Starts to Fade" (Mute Stumm 024) erschien, hatte sich die Maffia grundlegend gewandelt. Sherwood selbst arbeitete mit renommierten Sugarhill-Musikern wie Doug Wimbish, Keith Le Blanc und Skip McDonald zusammen. Und die schlugen in UK ein wie eine Bombe. Stewart erinnert sich: "It was this tape they´d done with like rockets going off and drums that sounded like steamhammers. I was going mental playing it to everyone."

1984 war das Jahr des großen Bruders, und so gestaltete sich das Album wie Orwells schlimmster Alptraum. Bretterhartes Drum-Programming, Detonationen, Megaphon-Schreie: "This Is a Restricted Area", eine gewaltige staatliche Terrormaschine trampelt alles kurz und klein, Matrix-Spione sitzen in den Leitungen. Der Rest des Albums wird von Angst, Verzweiflung, Eifersucht und Ohnmacht geradezu in schizophrener Zwiespältigkeit gehalten. Industrial trifft Rock, Dub und Funk. Schwer verdaulich, aber schon allein Sherwoods Arbeit an den Reglern des Mischpultes machte es zu einem Jahrhundertwerk. Und sorgte zusätzlich für eine massiv gute Reputation des On-U-Labels. Später trat die Maffia auch ohne Mark Stewart auf - ihr treffendes neues Alter Ego nannte sich Tackhead (Sprengkopf). Vielleicht erinnert sich der eine oder andere noch an die ohrenbetäubenden Konzerte Mitte der 80er im U4 oder im Kennedy´s.

1987 setzte Stewarts "Untitled"-Album das Konzept von "As the Veneer ..." fort. Die Politik ist zwar in den Hintergrund gerückt, Techno-Angst steht dafür an vorderster Stelle, das vereinsamte Individuum, das sich in einer hochtechnologisierten Umwelt nicht mehr zurechtfindet. Ein düsteres elektronisches Werk aus der No-Future-Ära, dessen Songs "Survival" oder "Hell Is Empty" sehr gut Stewarts dauerhafte Depression ausdrücken. Etwa zu dieser Zeit lernte Stewart in Bristol einen Musiker namens Tricky kennen und wurde sein Mentor. 1990 erschien "Metatron" (On-U LP 051), das deutlich gitarrenlastiger ausfiel als die Vorgänger.

 

Danach wurde es deutlich ruhiger um den unberechenbaren Künstler. Stewart verbrachte viel Zeit auf dem Lande - abgeschnitten von der Umwelt und telefonisch unerreichbar schrieb er Gedichte und nahm eine ausgedehnte Pause von der unbarmherzigen Welt. Ganze sechs Jahre verschwand er von der Bildfläche, bis er sich 1996 mit "Control Data" (On-U LP 80) zurückmeldete. Geblieben war der dubby Charakter der Stücke, allerdings tändelte Stewart nunmehr mit Versatzstücken von Techno und Dub. Das funktionierte zwar auch ganz gut, machte ihn aber doch zunehmend verwechselbar.

In den letzten Jahren tauchte Stewart nur mehr vereinzelt auf Compilations auf. "The Lunatics Are Taking Over the Asylum" - aufgenommen für On-U-Sounds "Chainstore Massacre" (On-U LP 102), und sein störrischer Mix des Silent-Poets-Songs "Prisons" zeigen aber, daß er noch immer für militanten, hart geschnittenen Sound geradesteht - und somit wundert es nicht, daß sein momentan laufender Comeback-Versuch in England ausschließlich positiv aufgenommen wird.

Höchste Zeit also, die Erinnerungen an den stilbildenden Musiker wachzurufen. Das hat sich wohl auch das renommierte Londoner Label Soul Jazz Records gedacht und mit "Kiss the Future" eine von Stewart selbst kuratierte Anthologie seiner Lieblings-Tracks zusammengestellt (die aber nur drei Pop-Group-Stücke beinhaltet). Eine gute Gelegenheit, um in sein Lebenswerk hineinzuschnuppern, vor allem für alle jene, die damals nicht dabei waren. Alle anderen werden wieder ihre verstaubten Raritäten aus den Archiven kramen und überrascht feststellen, wie zeitgemäß vieles davon auch heute noch klingt.

Ernst Meyer

Kommentare_

Mr Smith - 28.11.2007 : 13.20
Ich habe noch nie eine so hervorragende Vita gelesen, einfach super. Einen kleinen Fehler habe ich gefunden, der Song heist natürlich: As the vener of democraty starts to fade.

Schade auch, das sein einziger "Lovesong" (Stranger) nicht angesprochen wird. Eins meiner Lieblingslieder

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