Kolumnen_Ausweiskontrolle: Reykjavik ist überall!

Reykjavik ist überall!

Und schon wieder 20 Minuten in der Zukunft: Durch die totale Videoüberwachung ist die Welt endlich sicher und schön geworden. Da kommt Freude auf - aber nur bei manchen.    16.11.2005

Wer sich an einem Sonn- oder Feiertag in einen Wiener Vorort, beispielsweise Penzing, verirrt, kann dort Zeuge eines denkwürdigen Phänomens werden. Man wartet an der Station Diesterwegstraße auf eine öffentliche Droschke und beobachtet auf der anderen Straßenseite einen von stadteinwärts auf die Haltestelle zurollenden 52er. Ein paar Minuten später kommt ein weiterer 52er mit Kurs auf Baumgarten vorbei; keine Zigarettenlänge später noch einer und noch einer. Nur aus der Gegenrichtung kommt nichts, mehrere Zigaretten lang.

In kontemplativen Momenten wie diesem kommt man unvermutet der Wahrheit auf die Spur - beispielsweise, wozu die Wiener Linien Videokameras in den Waggons benötigen: nicht etwa, um die Nasenhaare der Fahrgäste zu sondieren, sondern um herauszufinden, wo die ganzen 52er hinkommen. Irgendwo zwischen Diesterwegstraße und Baumgarten verschwinden ganze Straßenbahnzüge spurlos, und die erweiterte Videoüberwachung wird ans Licht bringen, wer die Verantwortung dafür trägt. Eines vorweg: Ludwig Hirsch kann als Täter höchstwahrscheinlich ausgeschlossen werden. Seine Idee, den D-Wagen nach Ankara zu entführen, krankt schon an der Schiene dorthin; und an die Vision seines außen rauhen, innen aber ganz weichen Dichterkollegen Clive Barker wollen wir im gemütlichen Wien gar nicht denken. Im ersten "Buch des Blutes" fährt die U-Bahn nämlich direkt in einen unterirdischen Schlachthof.

Solche Dinge aber können, wie erwähnt, zum Glück durch die erweiterte Videoüberwachung verhindert werden. Erinnern Sie sich noch, wie das war, als die Serienmörder im Dutzend die Passagiere der letzten Straßenbahn abgeschlachtet haben? Davor brauchen wir uns dank der Kameras nun nicht mehr zu fürchten.

Und wo all die 52er hinkommen, das kriegen wir sicher auch noch raus, früher oder später. Vielleicht.

 

Das Gesicht als Fahrschein. Kontemplativ weitergedacht führen die Wiener Linien mit der Installation von Videokameras in U-Bahnen und Straßenbahnen aber weder Terrorbekämpfung noch die Ausspähung der Fahrgäste im Schilde. Es geht dabei vielmehr um die Einführung eines neuen Fahrscheinsystems, das auf Gesichtserkennung basiert. Die Computer im TV-Zimmer der Wiener Linien schauen in der Biometriedatenbank des Innenministeriums nach, wer da öffentlich wo herumfährt. Darf er (sie) herumfahren, wird über die "e-card" nach Kilometern abgerechnet. Darf er (sie) nicht einfach so unterwegs sein, kommen an der nächsten Haltestelle freundliche Mitarbeiter eines von den Wiener Linien engagierten Sicherheitsdienstes und tasern die Welt wieder in Ordnung.

Übrigens: Die installierten Kameras sind zwar klein, aber so gut, daß über die Tiefe der Augenringe sogar Rückschlüsse auf den Müdigkeitsgrad einer Person gezogen werden können. Es ist zu erwarten, daß dieses bislang eher im Hintergrund stehende Feature im nächsten Wahlkampf zum Schlüsselargument für eine "Harmonisierung der Fahrpreise" der Wiener Linien herausgegriffen wird: Wer wach ist und auch gut laufen könnte, zahlt mehr für den Luxus eines öffentlichen Verkehrsmittels als ein müder Krieger, der nur heim will, bevor seine Frau mißtrauisch wird.

Im Sinne einer sozialen und zugleich kosteneffektiven Gestaltung der Fahrpreise ist darüber hinaus die Einbeziehung der Witterung unumgänglich. Die bei Schnee und Regen explodierenden Reinigungskosten können dank Gesichtserkennung direkt dem Fahrgast weiterverrechnet werden, der den Dreck verursacht hat. Um dieses innovative System werden die Wiener Linien schon im Vorfeld von maßgeblichen Großstädten auf der ganzen Welt beneidet, Kalksburg eingeschlossen.

Auf der gegenüberliegenden Straßenseite macht sich übrigens gerade ein weiterer 52er auf die Reise in die Twilight-Zone.

 

Wo der Rubel hinrollt. Billig ist die Videoüberwachung von U- und Straßenbahnen selbstredend nicht. Die Sony-Kameras, die Plasma-Großbildschirme von Philips, die Kenwood-Surround-Systeme und die Panasonic-Festplattenrecorder sind zwar ihr Geld wert, die Investition muß sich jedoch für alle Beteiligten lohnen und nicht nur für die Zulieferer. Da durch die permanente Aufzeichnung ein immenses Potential an Bildern vorhanden ist, findet auch eine kommerzielle Verwertung statt.

So kann man sich beispielsweise an den Infotainment-Ständen der Wiener Linien bis zu 24 Stunden nach einer "Öffi-Fahrt" (in Neusprech "putr" für public transport) eine DVD der eigenen Aufnahme ziehen. Ein sehr beliebtes Mitbringsel, wenn man seinem Gastgeber vor Augen führen will, wie umständlich die Anreise war, aber auch eine nette Erinnerung für Hinterbliebene: "Omis letzte Tramway-Fahrt".

 

In Island müßte man sein ... Da durch steigende Arbeitslosenzahlen immer mehr Menschen davon abgelenkt werden müssen, auf dumme Gedanken zu kommen, werden die Videoüberwachungsaufnahmen ausgewählter Linien in das öffentliche Kabel-TV-Netz der Stadt eingespeist. Der neue Kanal erfreut sich immer größerer Beliebtheit, und seine Zuschauer dürfen dank Gesichtserkennung auch an Contests und Küren teilnehmen, wie etwa dem "Pendler der Woche" oder dem "Aufgeflogenen Triebtäter des Monats."

Daß Videoüberwachungsaufnahmen der Stoff sind, aus dem Fernsehklassiker geschmiedet werden, erkannte übrigens bereits der durch Liese Prokop ersetzte Ex-Innenminister Ernst Strasser: Er verwechselte den zynischen Kurzfilm "Citizen Cam" von Jérôme Scemla über Videoüberwachung in Rejkavik mit einer dokumentarischen Bestandsaufnahme und sah die Wiener Innenstadt schon von einem Kameranetz isländischer Dimensionen überzogen. Tatsächlich gibt es in Rejkavik jedoch nur etwa fünf Überwachungskameras, die in Verbeugung vor dem Faux-pas des Ministers alle "Ernst" heißen. Und möglicherweise heißt auch der Fahrer des 52ers so, der auf der gegenüberliegenden Straßenseite gerade in sein Verderben aufbricht.

 

Fernsehen ist geil. Das weiß auch Ursula Stenzel. Vor ihren Politambitionen berufsbedingt an Kameras gewöhnt, ist es ihr ein Anliegen, die von einer Welle der Gewalt gebeutelte Wiener Innenstadt sicherer zu machen: "Ich bin dafür, daß man die Videokameraüberwachung ausdehnt, als Erstmaßnahme. Auch in der Bellaria- und vor der Babenberger-Passage", erzählte sie der Tageszeitung "Die Presse" am 19. 10. 2005. Da das Böse gern in Parks auf Opfer lauert (und im Sommer auch dort nächtigt), denkt Ursula Stenzel auch daran, die Parks in der City zu schließen: "Nehmen Sie zum Beispiel London: Dort sind herrliche Parks in der City gesperrt. Da haben dann nur Private Zugang", wie beispielsweise Stadträte und Bezirksvorstände. So bleibt man Herr im eigenen Garten.

Als alte Terrorbekämpferin hat Ursula Stenzel prompt eine potentielle Gefahr für die Innenstadt geortet: den "gelangweilten Touristen", der Straßenmusikern zuhört, anstatt zu shoppen: "Touristen kommen in die Innere Stadt, um in Ruhe einzukaufen und in die Cafés zu gehen. Aber die, die auf der Straße bei diversen Pantomimen stehen bleiben, sind kein Gewinn für das geschäftliche Leben der Inneren Stadt." Das gilt natürlich auch für Wiener, die versehentlich aus anderen Bezirken in den "ersten Hieb" kommen: Kauft´s was oder schleicht´s Euch! Falls sich einer nicht an die goldene Erwerbsregel von Ferengi Stenzel hält, wird er mit Hilfe der erweiterten Videoüberwachung aber sowas von schnell ausgeforscht, daß man ihn erst gar nicht in den Bezirk reinläßt.

Der interessante Ansatz, ein wenig weitergedacht: Da ein Aufenthalt in der Inneren Stadt nur der Einnahme oder dem Erwerb von Gütern dienen kann, erfolgt der Einlaß in den Bezirk an markierten Kontrollpunkten gegen einen Kaufkraftnachweis. Praktischerweise kann dieser auf der "e-card" der Sozialversicherung enthalten sein, weil in- und ausländische Gammler so eine eh nicht haben. Problem erkannt, Problem gebannt. Ruckzuck, wie unser Kollege Kottan so treffend sagen würde.

 

Langsam wird die Zeit knapp. Der Übergang zur Innenstadt für "Besucher minderer Kaufkraft" schließt in knapp einer Stunde, und es ist noch ein weiter Weg dorthin. Seit der Stenzelpark (vormals Burggarten) für die Öffentlichkeit gesperrt ist, bleibt nur der Karlsplatz, wenn man es eilig hat, was aufgrund der Schutzzone um das evangelische Gymnasium aber ein wenig riskant ist. Wenn man sich dort aufhält, empfehlen sich Anzug und Krawatte als obligate Bekleidungsstücke, um nicht vom Wachdienst belästigt zu werden. Unter Obdachlosen ist es ein beliebter Sport geworden, sich möglichst lange in der Schutzzone aufzuhalten, bevor sie mit dem Bus in den dritten Bezirk geschickt werden. Oder mit dem 52er nach Penzing, wo sie dann auf halber Strecke spurlos verschwinden ...

Dieser kontemplative Moment mit großem Verschwörungstheorie-Potential geht mit dem Eintreffen einer stadteinwärtsfahrenden Straßenbahn leider zu Ende. Sie ist noch nicht zu meiner Sicherheit videoüberwacht, deshalb setze ich mich sicherheitshalber in die Nähe des Fahrers. Es passiert ja so viel, und seit dieser Geschichte mit den Serienmördern ... Zum Glück sitzt ein paar Reihen weiter hinten ein japanischer Tourist mit einer Videokamera. Welches Schicksal ihn auch in die Vorstadt verschlagen haben mag - er filmt, was er sieht! Endlich kann ich mich beruhigt zurücklehnen und mir entspannt die Brieftasche ziehen lassen. Sollte mir irgendwas passieren, dann weiß man wenigstens in Yokohama Bescheid.

 

PS: Die Stimme des Volkes. Für ihre "populistische" Überwachungspolitik wurden die Wiener Linien bei den "Big Brother Awards 2005" in der Kategorie "Volkswahl" mit dem Publikumspreis ausgezeichnet. Die Begründung im Originalton: Das Satelliten-Tracking der Uniqa-Versicherung wurde knapp geschlagen. Die populistische Überwachungspolitik der Wiener Linien lag in der Ungunst des Publikums noch etwas weiter vorn. Wer angesichts sinkender Kriminaltätsraten in Permanenz eine Explosion derselben heraufbeschwört, um mehr Kameraüberwachung zu rechtfertigen, manipuliert nicht nur unverschämt. Es darf gefragt werden, welche anderen Ziele - die sicher nicht im Interesse der Bürger sind - dabei verfolgt werden? [Zitat: "BBA2005"]

Chris Haderer

Kommentare_

Kolumnen
Ausweiskontrolle

Wie wir die NSA verwirrten ...

Im Internet sind die Lauscher immer und überall. Digitale Selbstverteidigung ist angesagt. Die notwendigen Tips gibt Steffan Heuer in seinem Buch "Mich kriegt ihr nicht!"  

Kolumnen
Ausweiskontrolle

The All American Big Data Online Election Show

Big Data und Social Media halten zusammen wie Pech und Schwefel. Ihnen verdankt Barack Obama seine zweite US-Präsidentschaft.  

Kino
Star Trek - Into Darkness

Phaserschmeichler

Zum zweiten Mal hat Regisseur J. J. Abrams den Motor der "Enterprise" angeworfen und sie auf eine für den Titel "Into Darkness" eigentlich recht gut ausgeleuchtete Reise geschickt. Chris Haderer ist eine Runde mitgeflogen.  

Termine
Festival des gescheiterten Films

Die große Show der tragisch Gescheiterten

Vom 8. bis 15. Februar geht das "Festival des gescheiterten Films" in den Breitenseer Lichtspielen vor Anker. Gezeigt werden Filme, für die es leider keinen kommerziellen Markt zu geben scheint.  

Termine
"Big Brother Awards" 2012

Name them & shame them!

Am 25. Oktober werden im Wiener Rabenhof die 14. "Big Brother Awards" verliehen. Traditionell finden sich unter den Nominierten illustre Namen von Beatrix Karl bis Marie Vassilakou.  

Kino
Die Wand

Bergsee mit Wand

Regisseur Julian Roman Pölsler hat sich an der Verfilmung von Marlen Haushofers "Die Wand" versucht - und ein schön photographiertes Hörbuch abgeliefert.