Print_Ernst Sittinger - Das Ende des Journalismus

Ist die Journaille noch zu retten?

Neben einer ebenso präzisen wie sachkundigen Analyse des Mediendilemmas finden interessierte Leser hier auch noch eine exzellente Einführung in die bunte Welt der Medienkritik.    22.11.2005

Es ist immer spannend, wenn Insider aus der Schule plaudern. Ernst Sittinger arbeitet seit zehn Jahren bei der "Presse" und ist als Lehrbeauftragter für politischen Journalismus und Medienwesen an diversen österreichischen Universitäten tätig. Sein Beruf führt ihn stets in die Schnittmenge zwischen Politik, Medien und PR. Und sein Befund des Qualitätsverlusts der (Print-)Medien fußt daher auf wohlfundierten Beobachtungen: Obwohl wir im "Medienzeitalter" leben, verlieren klassische Medien zunehmend an Einfluß. Die Recherchequalität läßt zu wünschen übrig, und meist bekommen die Journalisten Arbeitsmaterial ? wenig überraschend ? vorgekaut.

Sittinger kennt sämtliche Akteure und Institutionen des Medienzirkus. Inzwischen gibt es deutlich mehr Pressesprecher als Journalisten; die Redaktionen gleichen immer mehr Marketing-Abteilungen, wo Firmen gegen Bezahlung von Inseraten wohlwollende Geschichten "bestellen" können. Als Chefredakteur muß man immer mehr die Agenden von Geschäftsführern wahrnehmen und auch werbestrategische Entscheidungen treffen.

Traurig, aber wahr: Die Zeitungsverlage agieren heute als profitgierige Privatunternehmen. Von Bildungs- oder Aufklärungsauftrag ist wenig bis gar nichts mehr zu spüren. Personalabbau, Demoralisierung durch "Hire and Fire"-Praktiken, "Erpressung" durch Inserenten, die keine kritische Berichterstattung tolerieren - all das erzeugt einen mächtigen Druck auf den Journalismus. Und zwar von zwei Seiten: Auch die Jungjournalisten, die in die Redaktionen drängen, sind nämlich immer schlechter ausgebildet, hoffen mitunter bloß schnell Cash & Career zu machen und interessieren sich dementsprechend wenig für den Wahrheitsgehalt von Stories.

Der Autor nennt aber auch die systemimmanenten Schwächen des Informationsflusses. Da gibt es Presse- und Textagenturen, Medienberater, Pressesprecher und selbsterrnannte PR-Gurus. Sie alle versorgen die Redaktionen automatisch mit oft fragwürdigen Informationen. Da - vor allem bei den Tageszeitungen - immer weniger Zeit bleibt, um eine Geschichte "ins Blatt zu rücken", wird kaum mehr recherchiert bzw. hinterfragt. So fließen des öfteren die Gedanken irgendwelcher Medienmanipulatoren eins zu eins in den Layout-Raster der Publikationen ein. Doch auch bestimmte interne "Gesetz"-Mäßigkeiten der Herausgeber sorgen dafür, daß Informationen nach verzerrten Prämissen gesiebt werden. So erfreut sich das "No picture - no story"-Prinzip ungebrochener Beliebtheit beim Bewerten der Relevanz von Themen, und das nicht nur im Bereich der "Yellow Press". Auch die "Unsitte", mit Politikern oder Managern geführte Interviews vor Drucklegung per Fax "freigeben" zu lassen, trägt dazu bei, Leser zu vergraulen. So kann im Nachhinein noch viel umformuliert und entschärft werden; mit O-Ton hat das nichts zu tun.

Doch über all dem schwebt noch eine ganz andere Bedrohung: das Internet. Weblogs, Chatrooms und Webmagazine liefern immer öfter das, was die Leser bei den traditionell-konservativen Printmedien vermissen: Hintergrundberichte aus erster Hand, politische Kommentare und Photos, soweit das Auge reicht. Sittinger präsentiert aktuelle Umfragen, die genau zeigen, wie sich das Leseverhalten der jungen Medienkonsumenten verändert hat. Viele tendieren dazu, sich online eine eigene Zeitung "zusammenzustellen" (media on demand). Sie nutzen die Tatsache, daß das Internet 24 Stunden am Tag permanent aktualisierte Informationen ausspuckt. Das Fernsehen bzw. Radio hat den Braten schon vor Jahren gerochen und inzwischen gelernt, mit "Breaking News", also einer schnellen, willkürlichen Auflistung von Schlagzeilen, nahezu stündlich auf Sendung zu gehen. So schnell können selbst Tageszeitungen nicht reagieren - und geraten damit in den Augen solcher Power-User in Gefahr, schon "unaktuell" zu sein, wenn sie gerade druckfrisch geliefert werden. Bekanntlich ist nichts älter als die Zeitung von gestern.

Sittinger geht in seiner Analyse noch weiter. Er beschreibt die historische Entwicklung des Journalismus, von der Erfindung des Buchdrucks bis zu den digital produzierten Printmedien. Dabei spart er auch nicht die Mechanismen aus, die vor dem Hintergrund einer allgemeinen Politverdrossenheit der Leser aus den Politikern Promis machen. um sie so von den "harten" Innenpolitikseiten in den "Leute"-Teil der Adabeis zu übersiedeln, wo ihnen mehr Akzeptanz zuteil wird.

Am Ende seines gut geschriebenen, jede Form von Polemik vermeidenden Befunds kommt Sittinger jedoch zu einer etwas enttäuschenden Conclusio: Er vertritt die Auffassung, die Leser müßten in Zukunft mehr auf die Beschaffenheit und den Wahrheitsgehalt von Informationen achten, da nur sie eine "Renaissance" der Qualität einläuten könnten. Das mag vielleicht für den einen oder anderen Bildungsbürger gelten, aber dem normalen Leser "von der Straße", der wie wir alle unter einer ständigen medialen Reizüberflutung leidet, ist so ein kritisches Bewußtsein nicht zuzurechnen. Zusätzlich zu einer neuen Sichtweise der nur auf Profit beruhenden Informationsverabreichung bedarf es mit Sicherheit auch staatlicher Institutionen wie einem Presserat, der bei Diffamierungen oder Schädigung der Privatsphäre regulierend eingreift. Und natürlich sind auch alle Journalisten angehalten, "nein" zu schreien und Zivilcourage zu demonstrieren, wenn man von ihnen "schöngefärbte" Positivgeschichten einfordert. Die Verantwortung allein auf die Leser abzuschieben, ist entschieden zu einfach. Trotzdem: Weil Sittingers Analyse zu eigenen Gedanken anregt, ist sein Buch eine Empfehlung wert. Das Quellenverzeichnis liest sich wie das "Who´s who" europäischer Medienkritik. Wer also bei der Lektüre auf den Geschmack gekommen ist, kann sich über ein reichhaltiges Register weiterführender Literatur freuen.

Ernst Meyer

Ernst Sittinger - Das Ende des Journalismus

ØØØ 1/2


Leykam-Buchverlag

(Graz 2005)

 

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