Musik_Tool - 10.000 Days

Der dreifache Januskopf

Nach fünfjähriger Pause liefern Tool mit "10.000 Days" nicht nur ihr bislang reifstes Werk ab, sondern auch den Schlüssel zu Maynard Keenans multipler Persönlichkeit.    18.05.2006

Die Ziffer Drei spielt auf "10.000 Days" eine übergeordnete Rolle. Der auf dem Cover abgebildete Januskopf ist nicht einfach nur ein gespiegeltes Profil. Die zwei Hälften, die in entgegengesetzte Richtungen schauen, vereinigen sich zusätzlich zu einem nach vorne blickenden Gesicht. Janus ist der römische Gott des Anfangs und des Endes, der Wächter der Himmelspforte und Symbol der Zwiespältigkeit. Es ist mit Sicherheit kein Zufall, daß die Band just diese Sujet als Artwork wählte.

Derart dreigeteilt ist nämlich auch Maynard Keenans Persönlichkeit. Neben seiner Berufung als Tools Leadsinger ist er zusätzlich sowohl Schauspieler als auch Stand-up-Comedian (!). So trat er etwa in "Sleeping Dogs Lie" als Polizist oder in "Bikini Bandits" als Satan höchstpersönlich auf und ist ein Freund des berühmten US-Komikers Bill Hicks.

Eines von Keenans Gesichtern wacht jedenfalls über das theatralische und lyrische Spielfeld von "10.000 Days". Das Album ist eingebettet zwischen klassische Mythologie, alttestamentarische Inhalte und zeitlosen Weltschmerz. Religiöse Spuren fanden sich bei Tool auch schon auf früheren Platten, doch noch nie traten die Motive so deutlich in den Vordergrund. Maynard Keenan stammt aus einer alteingesessenen Baptistenfamilie, das Predigen liegt ihm also im Blut.

Was hat sich nun seit "Lateralus" (2001) geändert? Die Lieder sind insofern musikalischer geworden, als Tool nicht mehr fünf Stücke kapitelhaft in einen Song quetschen - auf "10.000 Days" sind es nur mehr drei. OK, Spaß beiseite: Keenan glänzt einmal mehr durch seinen außerordentlich beherrschten Gesang. Was nicht heißen soll, daß "10.000 Days" softer wäre als sein Vorgänger. Keenan singt einfach noch mehr und ausdrucksstärker, seine Schreie der Agonie sind verstummt.

Nach dem konventionell-rockigen Instrumental-Opener "Vicarious" greifen Tool auf "Jambi" gleich ins Volle. Sie spannen wie gewohnt den Bogen von klassischer 1970er-Psychedelia über 1980er-Hardrock bis hin zu 1990er-Powermetal. Die Psychedelia-Referenzen fungieren nicht nur als Zuckerguß auf den Kompositionen; sie sind vielmehr der Kitt, der die mitunter fragmentierten Taktfolgen zusammenhält. Deshalb erhalten Tool von US-Kritikern gerne das Prädikat "Psychedelic Metal".

Rituell geht es mit "Wings for Mary Pt. I" weiter. Nebelverhangene pulsierende Gitarren begleiten Keenan bei seinem Gebet, der Ode an seine verstorbene Mutter Judith. 10.000 Tage dauerte es, bis sie, nach einem Schlaganfall gelähmt, endlich erlöst wurde ("30 years in the fire are enough"). Wie ein buddhistischer Mönch begleitet er ihre Seele auf dem Weg ins Jenseits, und am Ende des wunderschönen Songs schließen sich die Pforten des Paradieses. Janus hat seine Arbeit getan.

 

Im zweiten Teil des Wehklagens ("10.000 Days, Wings Pt. II") überzieht sinflutartiger Regen die Erde. Ihr Antlitz verfinstert sich, und in der sich darbietenden unendlichen Zerstörung verharren die Hinterbliebenenen nackt und einsam in trostlosem Elend - zumindest vorerst, da aus der von oben erzwungenen Resignation alsbald Keenans Zorn des Gerechten erwächst. Er streckt die Faust gen Himmel und findet erst im Refrain scheinbar Erlösung. Der gesamte Text ist von heftigen religiösen Erfahrungen geprägt. Daß Songwriter mitunter sehr persönliche Erlebnisse zu Songs verarbeiten, ist in der U-Musik öfters der Fall. Im Metal-Genre findet man solch privat-intimen Bekenntnisse jedoch so gut wie nie. Keenan verwandelt sie geradezu in einen Aderlaß. Tool stehen völlig zu Recht in dem Ruf, ihre Musik habe eine ausgeprägte kathartische Funktion.

"The Pot" startet als Moritat und verzweigt sich zu einem zwiespältigen Lobgesang auf gewisse halluzinatorische Pflanzenextrakte, die vornehmlich geraucht werden. Solche Querverweise sind keine Seltenheit, siehe etwa "Rosetta Stoned". Der indianische Sprechgesang führt uns auf "Lipan Conjuring" in eine falsche, weil optimistische Richtung, denn ab "Lost Keys" wagt sich Keenan wieder in sein innerstes Selbst hinab und verliert sich in Selbstzweifel, Isolation und düsteren Existenzängsten. Mit "Rosetta Stoned" hingegen stehen Tool tief in der Tradition klassischer Stoner-Rockbands wie Down. Auch der Stein von Rosette, auf den hier angespielt wird, besitzt drei Seiten. Diese zeigen einen in drei Sprachen des Altertums abgefaßten Text: auf griechisch, demotisch und in Hieroglyphen. Ohne diesen Fund hätten die ägyptischen Schriftzeichen nie dechiffriert werden können. Er ist also auch eine Art Schlüssel zu einem großen Geheimnis ("Lost Keys"). Hier taucht sie wieder auf, die Drei, die sich wie ein roter Faden durch das Album zieht - sei es als Januskopf mit drei Gesichtern oder als Aufschlüsselung von Keenans Psyche in Ich, Es und Über-Ich (nach Freud).

Auf "Intension” läuft "10.000 Days" mit der vertrauten Toolschen Vertracktheit dahin. Stellenweise schimmert auf dem Album (als Geräuschkulisse oder Sound-Effekt gut versteckt) mehr Elektronik durch als auf "Lateralus". Das stört in keiner Weise und ist ein Indiz dafür, in welche Richtung sich die Band weiterentwickeln mag. Es darf übrigens durchgeatmet werden: "Intension" präsentiert sich als akustische Ambient-Komposition und ist sehr schön. "Right In Two" schlägt anfangs in dieselbe Kerbe. Maynard Keenan bemüht auch hier Predigerzitate. Noch einmal sei gesagt: "10.000 Days" ist ein sehr persönliches, religiöses Album. Vielleicht versuchen Tool eine Neuorientierung im Bereich des Christian Rock. Überraschend wäre diese Entscheidung nicht. Viel Percussion ist auf "Right In Two" zu hören - ein beliebtes Stilmittel von Tool und hervorragend geeignet, um ein bißchen Oriental-Feeling in die multidimensionalen, in Schichten komponierten Metal-Traktate einfließen zu lassen. Die Chillout-Phase endet herb, als der Doublebass unser Trommelfell massiert.

"Virginity Tres" bildet den Abschluß der Platte. Ein unheimliches "Schaben" (© Neubauten) hebt an. Ist es die Erdachse, die da knirschend ihren Geist aufgibt oder der kalte Grabeshauch der Äonen? Satan selbst spricht den Schlußsatz und läßt keine Zweifel offen: ohne Licht kein Schatten, ohne Böse kein Gut.

Ernst Meyer

Tool - 10.000 Days

ØØØØ 1/2


SonyBMG (USA 2006)

 

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