Stories_60 Jahre Fat Man & Little Boy II

Genozid und Gehirnwäsche

Von der Desinformation zur Aufklärung - das amerikanische Gewissen erwacht: Ernst Meyer über den Atombomben-Massenmord der USA, Teil zwei.    10.08.2005

Was bei allen Erklärungsmodellen für die Atombombenabwürfe der Amerikaner untergeht oder vielmehr absichtlich ausgeblendet bleibt, ist die von den Wissenschaftlern negierte ethische Verantwortung. Anstatt Atomspaltung als friedliche alternative Energiegewinnung zu forcieren, arbeiteten sie emsig an der grausamsten Waffe, die je von Menschenhand gebaut wurde. Auch Albert Einstein war anfangs ein leidenschaftlicher Befürworter der Bombe. Kaum zu glauben, daß die Gehirnwäsche der US-Propagandamaschine das Verantwortungsbewußtsein der Forscher so völlig ausgeschaltet haben konnte.

Der Mythos vom "unwissenden Wissenschaftler" indes läßt sich schon lange nicht mehr aufrecht halten. Die Mitschriften von den Konferenzen und die Tatsache, daß die Atombombe am 16. Juli 1945 in der Wüste von Neumexiko getestet wurde, beweisen: sie wußten genau, was sie tun.

Die Testbombe wurde am Boden gezündet. Die Forscher errechneten, daß die Zerstörungskraft noch viel größer sein mußte, wenn man sie in der Luft zur Explosion brächte. Vorsichtige Schätzungen gingen damals von 10.000 zu erwartenden Opfern aus, doch mit Sicherheit war das nur die unterste Schwelle. Das einzige, was die Forscher nicht extrapolieren konnten oder wollten, war der Schaden durch atomare Kontamination. Schwer zu glauben, daß das Genie Einstein nicht mit Madame Curies Experimenten vertraut war. Sie war die erste, die an der sogenannten Strahlenkrankheit verstarb ...

Angesichts dessen scheint es fast unheimlich, wie sich der aktuelle historische Aufarbeitungsfokus und die Medienmaschinerie an der Darstellung und Verteufelung des Holocaust festgefressen haben. Wahrscheinlich verhält es sich wirklich so, wie es der Journalist Bodo Morshäuser in seinem grandiosen Buch "Warten auf den Führer" bereits Mitte der 90er erkannt hat: Die Nazis mit ihrem Hakenkreuz-Logo, den Runen und den attraktiven Signalfarben sind viel "poppiger" als die grelle Vision des Atombombenpilzes. Als einem der Aufklärung verpflichteten Humanisten bleibt einem nichts anderes übrig, als zur Kenntnis zu nehmen, daß sich das Dritte Reich eben einfacher vermarkten läßt als das sperrige Thema des Atombombenabwurfs.

Vergleicht man die Literaturlisten zu den beiden Themen, stellt man bestürzt fest, daß es zum Thema Drittes Reich und Hitler Abertausende von Büchern gibt, zu Hiroshima weniger als hundert. Ein gravierendes Ungleichgewicht, das dringend korrigiert gehört, denn: Wer die Wahrheit fordert, muß auch bereit sein, die GANZE Wahrheit zu ertragen. Die USA sind nach wie vor nicht bereit, den Genozid, den sie am japanischen Volk begangen haben, einzugestehen. Vielleicht tragen die jüngeren Publikationen auch zu einer ganzheitlichen Sichtweise des Zweiten Weltkriegs bei. Dazu gehört der Auftakt des spanischen Bürgerkriegs ebenso wie der von den Amerikanern am Schluß gesetzte Paukenschlag der Atombomben. Und vielleicht bewirkt diese ganzheitliche Sichtweise auch, daß künftige Generationen Krieg als Prozeß erkennen werden, der nicht dem Kausalitätsprinzip von Ursache und Wirkung unterworfen ist.

 

PS: Seltsamerweise wurden die Atombomben von Hiroshima und Nagasaki nie zu fixen Bestandteilen der Populärkultur. Anders als Vietnam (siehe: Peace-Zeichen) oder Che Guevara blieb der Bombenpilz ein eher ungeliebtes Kind der Flower-Power-Generation. Und so gibt es kaum Bücher zum Thema, wenige Filme und noch weniger Songs. Nachfolgend dennoch eine kleine Auswahl:

Ernst Meyer

Bücher zum Thema


John Hersey - Hiroshima

(Philo-Verlag, Hamburg 2005)

 

Sechs Menschen überleben durch reinen Zufall das Armageddon. Protokollartig verfolgt Hershey die einzelnen Schicksale und erzeugt damit ein beklemmend emotionales Panorama der Angst.

 

 

Keiji Nakazawa - Barfuß durch Hiroshima

(Band 1 und 2; Carlsen-Verlag, Hamburg 2004/2005)

 

"Barfuß durch Hiroshima" ist eine autobiographische Comic-Erzählung. Der Junge Gen lebt mit seiner Familie in Hiroshima und wird Zeuge des Atomschlags. Auf der Suche nach Nahrung für sich und seine Mutter irrt er durch die zerstörte Stadt. In starken Schwarzweißbildern schildert Nakazawa nicht nur die Katastrophe und ihre Auswirkungen auf die Bevölkerung, er prangert auch das japanische Militär-System an, das überhaupt erst zu dem Desaster führte. Darüber hinaus schildert Nakazawa ein treffendes Sittenbild der japanischen Gesellschaft, in der Unterdrückung und Diffamierung an der Tagesordnung standen. Wenn man so will, ist

"Barfuß durch Hiroshima" das Tom-Pendant zu "Maus", der berühmten Holocaust-Parabel von Art Spiegelmann.

 

 

Günther Anders - Der Mann auf der Brücke. Tagebuch aus Hiroshima und Nagasaki

(Verlag C. H. Beck, München 1959)

 

Günther Anders nimmt unter den deutschen Chronisten der Atomkatastrophe eine Sonderstellung ein. Bekannt wurde er vor allem durch seine Zwiegespräche mit dem Enola-Gay-Piloten Claude Eatherley. "Der Mann auf der Brücke" ist ein Tagebuch aus Hiroshima, das er im August 1958 besuchte. Eine präzise Schilderung des Wiederaufbaus und des Schicksals der Hibakushas.

 

 

Shuntaro Hida - Der Tag, an dem Hiroshima verschwand. Erinnerungen eines japanischen Militärarztes

(Donat-Verlag, Bremen 1959)

 

Hida ist einer der prominentesten Überlebenden der Atombombe. Der Arzt betreut auch heute noch zweimal wöchentlich Folgeopfer der Strahlung. In seinem Buch beschreibt er die Stimmung und die Anlässe, die schließlich zum Unausweichlichen führten. So steht der Atomschlag auch am Ende seines Buches, in dem der nimmermüde Hida unter anderem die expansive Außenpolitik der damaligen japanischen Regierung ins Visier nimmt.

 

 

Masuji Ibuse - Schwarzer Regen

(Aufbau-Verlag, Berlin 1974)

 

"Schwarzer Regen" ist ein dokumentarischer Roman über ein junges Mädchen, das Jahre nach dem Atombombenabwurf noch immer unter dem Stigma des "Atomkrüppels" leidet. Wie so viele Leidensgenossinnen hat sie keine Chance, einen Mann zu finden. Ihr Großvater versucht anhand seiner Tagebuchaufzeichnungen zu beweisen, daß seine Enkelin nicht der Gamma-Strahlung ausgesetzt war. Erschütternd.

 

 

Robert Jungk - Strahlen aus der Asche. Geschichte einer Wiedergeburt

(rororo, Hamburg 1980)

 

Robert Jungk berichtet über den Wiederaufbau der Stadt und über die seelischen Belastungen, unter denen die Einwohner noch heute leiden.

 

 

Karl Bruckner - Sadako will leben

(G & G Jugendbuch, Wien 2005)

 

Sadako Sasaki erlebt als vierjähriges Mädchen den Abwurf der Atombombe auf ihre Heimatstadt Hiroshima. Sie und ihre Familie gehören zu den wenigen, die die Katastrophe überleben. Zehn Jahre später bricht bei Sadako die Strahlenkrankheit aus. Die Ärzte können das todkranke Mädchen, das sich bis zum letzten Moment ans Leben klammerte, nicht heilen. 1000 aus Papier gefaltete Kraniche sollen ihr nach japanischer Tradition wieder die Gesundheit schenken, doch beim 990. versagen ihre Hände ... Ein Aufklärungsbuch für Jugendliche und nichts für schwache Nerven.

 

Links:

Filme zum Thema:


Schwarzer Regen

117 Min., J 1988, Regie: Shohei Imamura

 

Ein kleines Dorf in der Nähe Hiroshimas, 1950. Der Schock des Atombombenabwurfs sitzt noch tief, die Strahlenkrankheit fordert ihre Opfer. Ein alter Mann versucht verbissen, seine Nichte zu verheiraten und tritt Gerüchten, sie sei strahlenverseucht, entgegen. Doch seine Hoffnung erweist sich als trügerisch ...

 

 

The Atomic Cafe

82 Min., USA 1982, Regie: Kevin Rafferty/Jayne Loader/Pierce Rafferty

 

Aus Werbe- und Propagandafilmen der 40er und 50er Jahre zusammengestellter Film zur US-Informationspolitik über die Verwendung von Atomwaffen. Seine satirische Wirkung gewinnt der Film aus der geschickten Montage.

 

 

Dr. Seltsam - oder: Wie ich lernte, die Bombe zu lieben (Dr. Strangelove - or: How I Learned to Stop Worrying and Love the Bomb)

91 Min., GB 1963, Regie: Stanley Kubrick

 

Der geistesgestörte US-General Jack D. Ripper verschanzt sich in seinem Luftwaffenstützpunkt und setzt die atomare Vernichtungsmaschinerie gegen die Sowjetunion in Gang. Als Ripper sich in einem Anfall von Schwermut das Leben nimmt und das Codewort zum Rückruf der Bomber endlich gefunden wird, ist es zu spät. Während der nukleare Gegenschlag anrollt, erscheint Dr. Seltsam aus der Versenkung: ein deutscher Wissenschaftler, der dem Pentagon seine makabren Überlebens- und Herrenmensch-Theorien darlegt. Kubricks böse Atomkriegssatire zeigt die militärischen und politischen Umtriebe konsequent als Spiegelbild des Irrsinns. Die groteske Stilisierung der Figuren und der Schauplätze entlarvt das "Gleichgewicht des Schreckens" als labiles Konstrukt, das jederzeit durch banale Zufälle und menschliche Schwächen zum Alptraum werden kann. Einer der radikalsten, bittersten und treffsichersten Filme zum Thema.

 

 

Hiroshima, A Mother´s Prayer

Video-Dokumentation der Hiroshima Peace Culture Foundation, Japan, 30 min.

 

6. August 1945, 8.15 Uhr vormittags. Die Uhrzeit des ersten Atombombenabwurfs ist für immer auf der Uhr des Doms eingefroren. Der Videofilm "A Mother´s Prayer" dokumentiert die Zerstörungen durch die Atombombe und ruft eindringlich zum Kampf gegen Atomwaffen auf.

 

 

Links:

Songs über die Bombe


Nazim Hikmet: "I Come and Stand at Every Door"

 

Cabaret Voltaire: "This is the H-Bomb Sound"

 

 

Links:

... denn sie wußten, was sie tun

(60 Jahre Fat Man & Little Boy I)


Der Nebel des Schweigens hebt sich: Zum Jahrestag des Atombombenabwurfs über Hiroshima und Nagasaki erscheinen zwei neue Bücher, ein Bildband und eine flache BBC-Doku.

 

Links:

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