Stories_Iain Banks und das "Kultur"-Universum

Besondere Umstände

Sind Sie ein Kulturmensch? Wahrscheinlich nicht. Zumindest nicht im Sinne von Iain Banks, dessen neuer Roman "Sphären" die an ihn gestellten Erwartungen leider nicht ganz erfüllen kann. Der EVOLVER sieht sich trotzdem in der zukünftigen Vergangenheit der "Kultur" um - und findet Erstaunliches.    27.02.2009

"Firstly, and most importantly: the Culture doesn't really exist. It's only a story. It only exists in my mind and the minds of the people who've read about it." (Iain Banks)


Iain Banks ist einer der großen Autoren der Science Fiction. Mit seinen etwa zehn Romanen aus dem Genre hat er seinen Namen tatsächlich in den Sternenhimmel geschrieben. Zudem verfaßt er "normale" Bücher. Die Gänsefüßchen sind hier unabdingbar; verwiesen sei etwa auf das derzeit und skandalöserweise nur in englischer Sprache lieferbare "The Wasp Factory", sein Debüt und ein wahrer Donnerschlag.

Der Autor dieser Überlegungen will Sie nun zu einer Reise überreden, deren Ziel in unserem Raum-Zeit-Kontinuum nicht gerade um die Ecke liegt: die Kultur - eine höchstentwickelte, überlegene, in sich selbst ruhende und sich selbst genügende Zivilisation, in der die Verschmelzung von biologischen Organismen und Maschinen längst die wunderbarsten Früchte trägt, zumindest auf den ersten Blick. Die Kultur ist eine genuine Schöpfung von Iain M. Banks (so nennt er sich im angloamerikanischen Sprachraum, wenn er Science Fiction schreibt), um die der Großteil seiner einschlägigen Werke kreist.


Die Kultur


Falls jemals jemand vom Kontakt oder den Besonderen Umständen (BU) auf den Verfasser dieser Zeilen zukommen sollte (in Form einer Drohne, eines Avatoids oder gar eines konventionell geborenen Wesens der Kultur), abgesetzt in seiner Heimatstadt von einer Landefähre der Allgemeinen Kontakteinheit "Leicht angebraten auf dem Realitätsgrill" - und dieses Bewußtsein würde ihn fragen: "Kommen Sie mit zur Kultur für immer und ewig?", so wäre seine Antwort ein uneingeschränktes "Ja!"

Nur fragt ihn keiner. Und schon gar niemand von den BU. Dafür ist er zu unwichtig - und unoriginell. Zweifellos.

Zur Begriffsklärung: Man könnte den Kontakt als Spielwiese für die Kultur-Individuen betrachten, die noch sowas wie leichte Unruhe oder ein Kribbeln verspüren, bevor sie in die absolute, hedonistische Selbstgenügsamkeit abgleiten.

Die BU hingegen ist für die schweren Fälle da. Hier ist noch Skepsis vorhanden, ob es denn tatsächlich erlaubt sei, sich das Chaos jenseits der Grenzen der Kultur, der Optime oder der Beteiligten, mit anzusehen, ohne sich ab und zu einzumischen.

Genau in diesem Spannungsfeld zwischen High-Tech-Zivilisation bei relativer Unsterblichkeit und der uns gut bekannten Grausamkeit der wenig entwickelten Völker spielen sich nun die einmal mehr, einmal weniger aufflackernden ethisch-ideologischen und/oder brachialen Grenzscharmützel ab. Die Probleme, die die Kultur intern oder mit den anderen Optime hat, gleichen dem berühmten Sturm im Wasserglas und resultieren aus Tratsch und Langeweile - dazu später mehr.

Zur Verdeutlichung ein Vergleich der Entwicklungsstufen der Kultur und einer beliebig gewählten Realzivilisation (der Optimalwert ist 10):


 

Anhand dieser kleinen, mutwilligen Übersicht erkennt man geringfügige Abweichungen einerseits in den Standards, aber auch in ethischen Einstellungen sowie der Emotionalität.

Zusammenfassend könnte man sagen: Das Individuum der Kultur kann tun und lassen, was es will. Es ist weder materiell noch organisch eingeschränkt (Wollen Sie ein Mann oder eine Frau oder vielleicht ein Raumschiff werden? Kein Problem!) und kann sich, wenn es die ganze Galaxie bereist und die Materie über hat, zu den Vergeistigten und Unsterblichen aufmachen.

Um nicht Eulen nach Athen zu tragen (und natürlich aus Bequemlichkeit), verweist der Autor dieses Elaborats auf einen Auszug aus "A Few Notes on the Culture", von Iain Banks selbst verfaßt:

 

"The Culture is a group-civilisation formed from seven or eight humanoid species, space-living elements of which established a loose federation approximately nine thousand years ago. The ships and habitats which formed the original alliance required each others' support to pursue and maintain their independence from the political power structures - principally those of mature nation-states and autonomous commercial concerns - they had evolved from. The galaxy (our galaxy) in the Culture stories is a place long lived-in, and scattered with a variety of life-forms. In its vast and complicated history it has seen waves of empires, federations, colonisations, die-backs, wars, species-specific dark ages, renaissances, periods of mega-structure building and destruction, and whole ages of benign indifference and malign neglect. At the time of the Culture stories, there are perhaps a few dozen major space-faring civilisations, hundreds of minor ones, tens of thousands of species who might develop space-travel, and an uncountable number who have been there, done that, and have either gone into locatable but insular retreats to contemplate who-knows-what, or disappeared from the normal universe altogether to cultivate lives even less comprehensible. In this era, the Culture is one of the more energetic civilisations, and initially - after its formation, which was not without vicissitudes - by a chance of timing found a relatively quiet galaxy around it, in which there were various other fairly mature civilisations going about their business, traces and relics of the elder cultures scattered about the place, and - due to the fact nobody else had bothered to go wandering on a grand scale for a comparatively long time - lots of interesting 'undiscovered' star systems to explore ...

 

In einer deutschen Kurzfassung mag sich das etwa so lesen: Als Angehöriger der Kultur sind Sie beinahe unsterblich, verfügen über höchstmögliche Intelligenz und sind im Besitz einer unglaublich weit entwickelten Technologie. Krieg, Haß, Leidenschaften, Inflation - alles Vergangenheit. Sie sollten sich nur nicht in die Geschicke niederer Zivilisationen (vergleichbar der unseren) einmischen.

Klingt verführerisch? Ist es aber nur bedingt. Damit wir sehen, daß auch so weit fortgeschrittene Zivilisationen nicht ganz ohne (Luxus-)Probleme auskommen, betrachten wir diese im folgenden neidvoll aus der Nähe.

 

Problemstellung 1: Das Gebot der Nichteinmischung

 

Ein Vorläufer aus zeitlicher und ethischer Sicht ist im humanen Völkerrecht verankert. Sollte die Bevölkerung eines Staates X beschließen, sich gegenseitig abzumurksen, so ist dies von den anderen Nationen als innerstaatliche Angelegenheit zu betrachten, und sie haben sich da rauszuhalten. Hochgerechnet für eine sehr weit fortgeschrittene, raumfahrende Zivilisation, die sich bedrohlich der Allmächtigkeit angenähert hat, bedeutet das:

Beeinflusse keine Zivilisation, die in der Entwicklung weniger weit fortgeschritten ist als du selber. Mit allen anderen kooperiere oder ignoriere sie, sonst kannst du nur verlieren.

Hinter diesem Gebot - das im Star Trek-Universum "Oberste Direktive" heißt, aber nie wörtlich formuliert wurde - steckt ein mehr göttlicher als ethischer Gedanke: Wie Gott uns Christenmenschen die Freiheit (aus Liebe heraus) geschenkt hat, unseren Weg ins Unglück selbst zu wählen (das heißt: die Waffen, mit denen wir uns massakrieren, selbst zu erfinden), schenkt die Kultur diese Freiheit den sich noch in Entwicklung befindlichen Zivilisationen. Wie nun aber schon im menschlichen Völkerrecht ersichtlich und in vorliegender Formulierung bewußt überspitzt dargestellt, birgt dieses "Geschenk" ein ziemlich massives Problem.

Habe ich als mächtiger Außenstehender das Recht, mich auf die Rolle des Beobachters zurückzuziehen, oder ist es nicht vielmehr meine ethische Pflicht, mich einzumischen, da ich es ja (aus eigener Erfahrung) besser kann und weiß? Würde ich dies aber tun, auf welche Seite würde ich mich schlagen und welche Gemeinschaft oder Rasse oder Nation würde ich unterstützen und fördern? Einmischen hieße, die Evolution einer Spezies zu beeinflussen und damit Gott zu spielen (obwohl der vermutlich aus dem gleichen Dilemma heraus beschlossen hat, uns in der Sandkiste alleine zu lassen).

Die Frage ist also: Wie verhält man sich korrekt, wenn man einerseits ethisch handeln will und andererseits nicht die göttliche Liebe sein eigen nennt? Dieses Dilemma ist eines und wird es bleiben. Jede Kontaktaufnahme ist definitiv Einmischung - eine ähnliche Thematik finden wir beim Zeitreise-Thema.

Die Menschen haben als Lösungsvorschlag die Vereinten Nationen gegründet. Star Trek läßt Captain Kirk entscheiden, ob der American Way of Life der jeweiligen Spezies die Erleuchtung bringt - und die Kultur hat den Kontakt und für den Ernstfall die Besonderen Umstände ins Leben gerufen.

In allen drei Fällen ist das Ergebnis unbefriedigend und im besten Fall als guter Wille zu bezeichnen. Immerhin aber birgt es für die nächsten Jahrmillionen genügend Gesprächsstoff. Im übrigen gäbe es ohne diese Zerrissenheit ein wesentliches und intelligentes Spannungsmoment in der SF weniger.

 

Exkurs 1: Das Böse

 

Wie üblich haben es die Leute, die sich über Ethik nie den Kopf zerbrechen - also die "Bösen" - da wesentlich einfacher: sie mischen sich ein, weil sie etwas haben wollen. Gar nicht lange fragen. Basta. Ist letztlich der Reiz am Bösen, daß es durch keine ethische Hirntätigkeit am Handeln gehindert wird? Muß doch Spaß machen, oder?

Bei Banks ist das Böse darum auch wirklich böse, und man sieht das diabolische Grinsen des Autors beim Schreiben, wenn er - uns zum schaurigen Amüsement und sich selbst zur Erholung - seine Finsterlinge erfindet. Man denke nur an die mit geblendeten Fledermäusen Federball spielenden Sadisten oder den Imperator, der den am Leben erhaltenen Kopf eines Attentäters als Punchingball benutzt.

Auch die Sonne der Kultur braucht also den Schatten des Bösen, um umso heller zu strahlen.

 

Problemstellung 2: Leidenschaft

 

Auf den Punkt gebracht: Kann es in einer Zivilisation, die de facto Krankheit und Tod besiegt hat, Leidenschaft geben, wenn wir davon ausgehen, daß diese ohne Leidensfähigkeit nicht existieren kann? Über die medizinisch-technischen Hintergründe lesen Sie bitte in den Romanen nach, uns interessiert hier nur die philosophische Überlegung. Zur Thematik immerwährenden Glücks empfehlen wir die Lektüre von Yasmin Rezas "Eine Verzweiflung": Was macht ein glücklicher Mensch, nachdem er morgens in der Karibik eine Papaya gegessen hat?

Stellen wir uns eine attraktive Frau vor, die jeden Tag die Möglichkeit hat, sich neue Schuhe zu kaufen. Ist das Glück - auch nach einem Monat noch oder nach einem Jahr?

Stellen wir uns einen potenten Mann vor, der jeden Tag einer anderen Frau ihre eben gekauften Schuhe ausziehen darf. Ist das befriedigend - und wenn ja, wie lange?

Ein Leben, das sämtliche Schattenseiten ausblendet und jedes Abenteuer oder Drama gezielt suchen muß, weil ihm in einer völlig durchorganisierten und -technisierten Welt nichts Schlimmes widerfahren kann; das hört sich bequem und gemütlich an, und man könnte sich endlich den Dingen zuwenden, an denen man bis dato durch widrige Umstände gehindert wurde.

Die Frage ist, ob sie uns dann noch interessieren würden. Unsere Interessen resultieren ja zumeist aus einer Lösungssuche für Problemstellungen in unserem Leben (obwohl sehr oft kein direkter Zusammenhang augenfällig ist).

Was ist also ein Leben ohne Probleme? Der Verfasser dieser Zeilen wagt zu behaupten, daß ihm diese Frage aus eigener Erfahrung niemand beantworten kann. In der Kultur erleben wir dennoch den mutigen Versuch, ein solches Leben darzustellen. Es ist sehr bunt und multikulti und (politisch) sehr korrekt und liberal und mit einer Million Möglichkeiten, was man tun könnte, wenn man wollte (nämlich beinahe alles). Aber es ist auch irgendwie schal und aufgebläht und - irgendwie - nicht ehrlich. Es ist für uns nicht nachvollziehbar.

Der Ausweg liegt jetzt darin, daß der Autor die wahren Tragödien außerhalb der Kultur ansiedelt und die Kulturmenschen in diese lediglich involviert. Wird´s wirklich gefährlich, läßt man vorsichtshalber eine Kopie seines Bewußtseins an sicherem Ort abspeichern: Man kann´s ja. Doch Leidenschaft entsteht halt erst, wenn man wirklich etwas riskiert oder sich anständig auf etwas einläßt ...

Um auf die Bösen zurückzukommen: Die sind zwar widerlich und brutal, aber sie sind leidenschaftlich widerlich und brutal. Das Gute ist hier weniger leicht denkbar, weil weniger klar umrissen, als das Böse. Es ist immer irgendwie verkopft und damit das Gegenteil von leidenschaftlich. Wenn ein Mensch scheitert, verzeihen wir ihm gern, wenn er leidenschaftlich gehandelt hat. Wenn jemand aber aus Berechnung handelt und scheitert, neigen wir zur Häme.

Es ist also gar nicht so einfach, das Gute und die gute Kultur so zu präsentieren, daß sie dem Leser so richtig ans Herz gehen. Und auch das fasziniert uns so an den Banks-Romanen: der Kampf um die Darstellbarkeit einer Utopie.

 

Exkurs 2: Die Utopie des Guten

 

Warum des Guten? Gibt es eine des Bösen?

Vielleicht könnte man sagen, daß alle Utopien ursprünglich gut gemeint waren, aber in der Umsetzung ins Böse kippten. Kein Visionär wird zugeben, daß er die Welt noch weiter verschlimmern will.

Banks allerdings wird nicht müde, sich an ihr zu versuchen - trotz, aber wahrscheinlicher wegen der oben genannten Problemstellungen. Wie sangen schon die Einstürzenden Neubauten so schön? "Nur was nicht ist, ist möglich!" Für die Psychoanalyse ist die Kultur (gemeint ist die irdischer Bauart, also nicht die Kultur) ein Rettungsanker und Schutz vor unseren animalischen Trieben. Wie Freud aber im "Unbehagen an der Kultur" darlegt, kann das aber auch zum Bumerang werden - wie es ja fortwährend geschieht.

Also versuchen wir das Beste; was dabei herauskommt, ist sowieso nur die abgespeckte Version/Vision. Oder so. Andernfalls bleibt uns immer noch die Science Fiction: Gute SF-Literatur hat neue Welten, Geschöpfe und Visionen für uns parat. Mutige SF hängt das alles auch noch an einer (positiven) Utopie auf.

Iain Banks ist ein mutiger Mensch. Entscheidungsträger, die Utopien nicht denken können oder wollen, sind das nicht. Mit ihnen brauchen wir uns nicht aufzuhalten - weder im wirklichen Leben noch in der Literatur. Da wenden wir uns lieber an die neuerfundenen Space-Operas aus der Kultur.

Peter Kaiser

Iain Banks und sein "Kultur"-Universum


Der im Dezember 2008 erschienene Kultur-Roman Sphären zählt leider nicht zu den besten SF-Werken des Iain Banks. Die historischen Passagen und Beschreibungen einer Zivilisation auf einer Schalenwelt am Rande zur Industrialisierung gemahnen doch zu sehr an Menschliches, an Allzumenschliches.

Es empfiehlt sich daher, die Romane chronologisch zu lesen. Bei den unten angeführten Jahreszahlen handelt es sich um das jeweilige deutschsprachige Erstveröffentlichungsdatum.

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Kommentare_

Frances Cauldham - 24.06.2010 : 16.02
"verwiesen sei etwa auf das derzeit und skandalöserweise nur in englischer Sprache lieferbare "The Wasp Factory", sein Debüt und ein wahrer Donnerschlag."

Bei Amazon gibt es zum Glück noch einige gebrauchte Exemplare zu einem vernünftigen Preis zu kaufen.

Stories
Iain Banks und das "Kultur"-Universum

Besondere Umstände

Sind Sie ein Kulturmensch? Wahrscheinlich nicht. Zumindest nicht im Sinne von Iain Banks, dessen neuer Roman "Sphären" die an ihn gestellten Erwartungen leider nicht ganz erfüllen kann. Der EVOLVER sieht sich trotzdem in der zukünftigen Vergangenheit der "Kultur" um - und findet Erstaunliches.