Stories_Porträt: William Wingate

"Thank you, Charles Darwin!"

William Wingate ist eines der bestgehüteten Geheimnisse der Thriller-Literatur. Trotz einiger Erfolge hat er unbegreiflicherweise nie den verdienten Durchbruch zum internationalen Bestseller-Autor geschafft. Dank Amazons Kindle-Programm gibt es seine längst vergriffenen Kracher jetzt wieder zum Nachlesen. Martin Compart würdigt den südafrikanischen Schriftsteller.    15.07.2013

In Hong Kong: Let Candice Go ("Verschollen in Hongkong", 1985) verschwindet die 14jährige Tochter des Ex-Marine Anthony Rice spurlos aus einem Hongkonger Kaufhaus. Bald stellt sich heraus, daß die Triaden die hübsche Candice entführt haben, um aus ihr eine Sexsklavin zu machen. Wie üblich, wenn Bürger in Not sind, nützen die Institutionen gar nichts, weder Konsulat noch Polizei. Hongkong besteht nämlich aus etwa 200 kleineren und größeren Inseln, und Candice könnte zur "Ausbildung" auf jedes dieser Eilande verschleppt worden sein.

Absolut brillant schildert der südafrikanische Autor William Wingate durch seinen Ich-Erzähler die Atmosphäre der Stadt sowie den Zorn und die Hilflosigkeit, die man als Protagonist in dieser Situation durchleben muß. Doch Rice hat noch einen Trumpf im Ärmel. Seit der Evakuierung Saigons 1975 schuldet ihm der CIA-Mann Tarrant einen Gefallen, und den fordert Rice jetzt ein. Tarrant schickt ihm seien unheimlichsten Mann: den bulgarischen Überläufer und Profikiller Yazov alias Crystal alias Hardacre alias Miami Slim. Der hat einen ganz einfachen Plan - den Triaden so lange in den Arsch zu treten und sie mit biblischen Plagen zu überziehen, bis sie Candice entnervt freiwillig herausgeben.

Das klingt wie ein primitiver Action-Film, ist es aber natürlich nicht. Denn Wingate ist ein großartiger Schriftsteller und spätestens mit diesem, seinem fünften Roman um Yazov, den neben Trevanians Nikolai Hel besten Profikiller der Kriminalliteratur, auf dem Höhepunkt seiner Kunst. Er verleiht seinem Erzähler eine ganz eigene Stimme, die den Leser von Anfang an in ihren Bann zieht und mitempfinden läßt. Wie der wütende Ex-Marine mit einer für ihn kaum durchschaubaren Kultur konfrontiert ist, wie seine nervige Frau durchdreht (und er auch damit noch zurechtkommen muß), das ist schriftstellerisches Können auf hohem Niveau - und deshalb auch spannende Unterhaltung. Daß Wingate seit 1986 keinen weiteren Roman mehr geschrieben hat, ist für jeden Thriller-Aficionado ein herber Verlust. Es ist allein der unglaublichen Dämlichkeit der Verlagsindustrie (und Hollywoods) zu verdanken, daß der Schriftsteller zu schreiben aufgehört hat. Sein Hongkong-Roman ist übrigens nur auf deutsch 1989 bei Ullstein erschienen und erlebte kürzlich seine englischsprachige Erstveröffentlichung als E-Book! Wingate dazu:

 

"Only Germans were tough enough to buy the book. It was never published in English. Other publishers made promises, but wanted changes to make the book more 'politically correct'. One disliked the idea of 'gooks' being used to describe an incident in the war in Vietnam, another hated that one of the major villains was a gay Chinese torturer.

My publishers and I could not agree. So, thank you, Charles Darwin of 'Survival of the Fittest' fame that the day of the High & Mighty Publisher is over. Publishing has 'evolved' beyond 'High & Mighty' publishing. In the bad old days you really had to 'suck around' and 'toe the line'. And if you couldn´t do that, then you were out of luck. Thank Amazon/Kindle that I don´t have to do that any longer. The Internet has broken the power of the traditional High & Mighty Publishers ..."

 

William Wingate ist eines der bestgehüteten Geheimnisse des Thrillers. Trotz gewisser Erfolge (eine Hollywood-Verfilmung) hat er unbegreiflicherweise nie den verdienten Durchbruch zum internationalen Bestsellerautor geschafft. Vielleicht hat er auch zu früh demoralisiert aufgegeben; seine fünf Crystal-Romane erschienen zwischen 1977 und 1989. Über den Mann selbst ist wenig bekannt. Hinter dem Pseudonym verbirgt sich der 1939 geborene südafrikanische Jurist Ronald Ivan Grbich, der übrigens auch ein begeisterter Pokerspieler ist, wie das 2011 veröffentlichte eBook "Wake Up Late, Read This ... Play Winning Poker Before Noon" beweist. Außerdem kennt er sich mit Machiavelli aus, wie man an seinem witzigen Sachbuch "The Don: How to Run a Mafia Family" erkennt.

Mehr weiß man nicht.

Ich selbst hatte Mitte der 1980er nur ein kurzes, angenehmes Telefonat mit ihm. Aber statt Mr. Grbich auszufragen, habe ich ihm nur enthusiastisch seine Romane erklärt. Mann, ich muß damals einige Autoren wirklich amüsiert haben ...

 

Wingates Romane sind nicht gerade dünn, aber auch nicht so retardierend und umfangreich wie die seiner Bestsellerkollegen Tom Clancy, Clive Cussler, Dan Brown, David Baldacci, Jussi Adler-Olsen oder Ken Follett (die retardierend sein müssen, da sie für ein Publikum arbeiten, das nur über ein geringes Kurzzeitgedächtnis verfügt). Bei William Wingate sitzt jeder Satz. Selbst ein ganz ordentlicher Autor wie Vince Flynn verliert sich zu oft in langweiliger Minutiösität. Dagegen ist Wingate immer temporeich. Selbst wenn er innehält, um einen Ort, einen Charakter, eine Atmosphäre oder eine Technologie zu beschreiben, gelingt es ihm, zu faszinieren.

Besonders in den beiden Romanen, die er in der ersten Person verfaßt hat, zeigen sich seine Fähigkeiten. Er treibt darin nicht nur Spannung und Setting voran, sondern entwirft auch die packenden Charakterstudien einer 15jährigen Hinterwäldlerin und eines verzweifelten Vaters und Ex-Marines.

Sein Held Yazov alias Crystal oder Hardacre ist ein völlig amoralischer Killer ohne goldenes Herz. Er kennt weder Liebe noch Loyalität und ist nur an seinem Überleben und Lohn interessiert. Oder wie Rice sagt: "Er war der unvergeßlich gefährlichste Typ, dem ich je begegnet bin. Vielleicht hatte er zu diesem oder jenem Zeitpunkt für alle Agencys gearbeitet, Gottes Arbeit getan, die Bevölkerungsstatistik in Grenzen gehalten. Er war nur mit der Kneifzange anzufassen." Wenn Yazov Mauern niederreißt, interessiert es ihn ein en Dreck, ob es sich dabei um tragende Wände handelt. Eine interessante Figur, die Entfremdung als Autarkie definiert.

Eingeführt wurde er im ersten Roman Fireplay ("Feuerspiel", 1977). Das Buch spielt Anfang der 1970er auf der Höhe des Kalten Krieges. Angeregt wurde Wingate durch einen realen U-Boot-Unfall der Sowjets, den der große Journalist Seymour Hersh damals für die International Herald Tribune aufgearbeitet hatte. Ein mit der neuesten Technik ausgestattetes Atom-U-Boot sinkt nach einem Unfall im Pazifik. Im Gegensatz zu den Amerikanern verfügen die Sowjets nicht über die Möglichkeit, das Schiff zu orten. Die CIA will das Wrack natürlich bergen, um es auszuwerten. Dazu benötigt sie die Hilfe durch einen an Howard Hughes orientierten Konzernchef, der nicht alle Tassen im Schrank hat. Als das Bergungsunternehmen anläuft, verrät es der engste Mitarbeiter des Tycoons. Und nun kommt Yazov, der beste Mann der Russen, ins Spiel und dreht die Handlung ins Aberwitzige.

Wingate hatte kein Problem, seinen Erstling umgehend an den ersten Verlag zu verkaufen, dem er ihn anbot. Das war auf der Höhe der Thriller-Manie der 1970er Jahre, und Forsyth, le Carré, Higgins, Trevanian, Deighton oder Follett hatten die Bestsellerlisten fest im Griff. Tatsächlich liest sich Fireplay sehr an Forsyth orientiert; erst mit dem Einführen von Yazov entwickelt sich ein eigener Tonfall.

 

"But English-world best-sellerdom was not to be. 'Fireplay' did not become 'Thriller of the Year' and I was not the new Frederick Forsyth. See, again in retrospect, 'Fireplay' had one great flaw. Men don´t read novels much, mostly women do. At least in big numbers that matter to markets. And in its essentially all-male spy world, 'Fireplay' lacked a major female heroine. Q.E.D. And so, among other improvements in this ebook version, I have revised 'Fireplay' to create such a major female character. John Mallory becomes JoAnn Mallory. Elementary, my dear Watson. If only I had known that, done that, then ...”

 

Auch Bloodbath ("Blutbad", 1978) wurde von der Realität inspiriert: die Entführung der Air-France-Maschine durch Deutsche und Palästinenser nach Entebbe sowie die Geiselbefreiung durch ein israelisches Kommandounternehmen. Diesmal soll Yazov den Diktator von Uganda umlegen. "In the novel, Idi Amin was thinly disguised as Obama Okan, two names common enough in East Africa. Since then, time has moved on, and it is probably more politic to write of Idi Okan rather than Obama Okan. And so I have", sagt Wingate zur Neuausgabe als E-Book.

In Hardacre´s Way/Shotgun ("Die Vergeltung des Fremden", 1980) wechselte Wingate erstmals von der Perspektive des allmächtigen Erzählers zum Ich-Erzähler. Der Roman ist eine Noir-Version von Jack Schaefers klassischem Western "Shane". Yazov kommt in ein kleines Nest in Tennessee und räumt mit einem dort niedergelassenen alten Mafioso und seiner Gang auf. Der Roman könnte fast eine Blaupause für Lee Childs Reacher gewesen sein (allerdings ist Reacher im Vergleich zu Yazov ein harmloser Meßdiener). Der alte Don hat ein Auge auf die 15jährige Lou geworfen, die die Autowerkstatt in Schwung hält, in der Yazov mit seinem kaputten VW-Käfer gelandet ist. Der Roman wird aus ihrer Perspektive erzählt. Yazov wird in die ganze Geschichte mehr oder weniger hineingezogen. Zwei Killer des Don, deren Dialoge einen Kritiker an die aus Hemingways The Killers erinnerten, wollen Yazov, der sich hier Hardacre nennt, umlegen - und so beginnt der blutige Reigen. Shotgun war Wingates erfolgreichstes Buch und wurde mit Burt Reynolds und Cliff Robertson als "Malone" mittelprächtig verfilmt.

 

 

"It wasn´t a bad movie. Only I wish they had stuck more closely to the last third of the book - and my ending, not their own. Mine was much, much better. At least, I think so."

 

An dem Film war der Autor dieser Zeilen wohl nicht ganz unbeteiligt: Kurz nachdem ich meinen Job als Herausgeber bei Ullstein begonnen hatte, schickte ich das Buch an Adel-Productions, die Produktionsfirma von Alain Delon (in Frankreich wurde es nicht veröffentlicht, dabei hätten die Franzosen einen Autor wie Wingate sofort goutiert). Ich war (und bin) der Meinung, es wäre ein perfekter Filmstoff für Delon gewesen; außerdem hätte man die Handlung problemlos nach Frankreich oder Spanien transponieren können. In der Delon-Firma lag es dann eine Weile mit vielen anderen möglichen Projekten herum. Schließlich griff es sich der Drehbuchautor Christopher Frank, mit dem Delon an seinem Film "Le Battant " zusammengearbeitet hatte, und machte - wahrscheinlich mit Delons Einverständnis - einen Hollywood-Deal. Zwar wurde auch Shotgun nicht der erhoffte internationale Bestseller, aber immerhin erleichterte der Film-Deal Wingates künftiges Leben:

 

"I used the upfront money for 'Malone' in a crazy investment nobody with half a brain would have looked at twice. And when the investment, by some miracle or two, actually worked out I got paid only half the money the folks I invested with were supposed to pay me. But that is another story ... Anyway, half or not, it helped me quit my day job and not really have to do much more after that - like having to wake up every day and do something real for a living. So I am grateful to 'Malone' and Burt Reynolds. Only I wish the investment people had stuck more closely to the deal first agreed - our agreement, not their own.”

 

Als vorletzter Roman erschien 1983 Crystal, vielleicht neben "Hong Kong" mein Lieblingsroman von Wingate. Diesmal räumt der Killer unter den Drogenbossen der "French Connection" auf.

 

"I did much research for 'Crystal', and visited most of the cities that figure in the book, including the docks of Istanbul, Marseille and New York. So, in the end, I believe the novel has an authentic sense of place and time. And in the end too, I could have grown, treated and made heroin myself. Much of the detail about how heroin gets from poppy planting in Turkey to the pretty, white crystalline stuff on the docks of New York is largely true, though I fudged some of the chemistry to avoid problems with crazies.”

 

Wer auf literarisch gute Polit-Thriller steht und keine Probleme mit Sex und einer Menge Gewalt hat, sollte auf die Lektüre von Wingate keinesfalls verzichten. Im Gegensatz zu manch anderen Autoren kann er nämlich extreme Situationen beschreiben. Er ist ein harter, böser Zyniker, fernab von jeder politischen Naivität. Bei ihm brennt höchstens Napalm am Ende des Tunnels. Und keiner seiner Romane gleicht vom Plot her den anderen - abgesehen davon, daß Yazov es in jedem richtig krachen läßt. Man bekommt alle seine Bücher noch antiquarisch oder eben jetzt als kostengünstige E-Books. Allerdings wird man nach der Lektüre des "real McCoy" Probleme mit aktuellen Bluffern haben. Nie mehr danach waren Polit-Thriller so noir ...

Martin Compart

William Wingate


"Malone" erscheint in Kürze als Neuauflage bei Ascot Elite auf DVD und Blu-ray.

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