Editorial_15. 9. 2003

Gepflegte Skandale

Bevor Sie sich von Ihren lieben Verwandten ins Altersheim abschieben lassen, sollten Sie sich lieber selbst umbringen - oder rechtzeitig für Reformen kämpfen.    15.09.2003

Liebe EVOLVER-Leser und -innen!

 

Nach dem neuesten Lainz-Skandal (= Berichte über Patientenmißhandlungen in einem Wiener Pflegeheim) sind die Aussichten wahrlich trübe. Während das allgegenwärtige Auge des "wild um sich schlagenden" Anlaßjournalismus schon nach dem nächsten "Scoop" geifert, wurden von Bürgermeister Häupl Kontrollamtsprüfungen aller geriatrischen Einrichtungen in Wien angeordnet. Der EVOLVER nützte das Informationsvakuum und eruierte flugs, wer für die Verwahrlosungsfälle in Lainz definitiv NICHT verantwortlich gemacht werden kann:

 

1.) das Pflegepersonal, das damit leben muß, von den Proponenten einer blasierten Spaßgesellschaft als Aussätzige behandelt zu werden. Seien wir doch ehrlich: Das mit der Unterbezahlung ist seit Jahrzehnten bekannt.

2.) stationäre Krankenschwestern, die schon aufgrund ihrer Konfession zur Nächstenliebe "verpflichtet" sind.

3.) Stationsärzte, die den Hippokratischen Eid geleistet haben. Wo waren die eigentlich die ganzen Monate über...?

4.) der ORF, der sich erdreistete, in "Thema" ein Privatheim der Caritas mit dem städtischen Geriatriezentrum zu vergleichen - also "Kraut und Rüben" gewissermaßen nebeneinanderliegen ließ.

 

Übrigens: Inzwischen haben wirklich alle Altenversorgungs-Einrichtungen (oder wie immer der korrekte Schüssel-Technokraten-Terminus für Seniorenpflegeheime lautet) ausreichend Zeit gehabt, selbst hartnäckigste Kotränder von den WC-Kacheln zu kratzen und frische Glühbirnen einzuschrauben.

Die ärgerliche, weil banale 08/15-Anweisung, das fragliche Pflegepersonal samt Direktor zu versetzen, erschüttert auch das Vertrauen der gut versorgten Patienten. Wirklich alles, was falsch entschieden werden konnte, wurde tunlichst falsch entschieden.

Anders gesagt: Dort, wo der österreichische Staat am dringendsten zur Stelle sein müßte, bei der Versorgung der Alten, Armen und Schwachen, dort, wo man hilfebedürftigen Menschen begegnet, wo es so richtig unappetitlich wird, übernimmt er keine Verantwortung mehr und tut so, als ginge ihn das alles nichts an ...

Im Wiener Pflegeheimskandal zeigt sich einmal mehr die schäbige Fratze eines schonungslosen Kapitalismus, einer oberflächlichen, schnellebigen Gesellschaft, die das Altern nicht als Prozeß alles Lebendigen, sondern als Krankheit sieht.

Daß dieser Mißstand mit den Popkultur-Reviews im aktuellen EVOLVER nicht viel zu tun hat, ist klar. Reden sollte man trotzdem darüber. Und jetzt, wie immer: Viel Spaß beim Lesen!

 

Ernst Meyer

(EVOLVER-Redakteur & soziales Gewissen)

 

Ernst Meyer

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