Editorial_25. 10. 2005

Kommt ein Vogerl geflogen

Damit das Volk brav den Schnabel hält, muß es mit immer neuen Ängsten versorgt werden. SARS ist passé, Terrorpanik was für Amis. Aber alles Gute kommt von oben ...    28.10.2005

Liebe EVOLVER-Leser und -innen, Droogs und Dewotschkas!

 

Laßt mich bitte mit dieser verdammten Vogelgrippe in Frieden! Verseucht sind wir sowieso, wovor also soll man sich fürchten?! Sollte es tatsächlich zur vielbeschworenen Pandemie kommen, nützt das Impfen auch nichts mehr. Wenn die Vogelgrippe wirklich Winterurlaub in Europa machen will, dann hilft nur eines: Atemmaske vors Gesicht und durch. Das entsprechende Signal hat der Wiener Bürgermeister schon am Wahltag gesetzt, als er sich beim Wirten eine "panierte Vogelgrippe" bestellte. Seitdem herrscht wieder Entwarnung, denn so ein Bröselflieger kann einfach nicht gefährlich sein. Nicht in Wien. Und wenn die Medien noch so schreien.

Katastrophen machen Spaß - und offenbar brauchen wir nach Erdbeben, Wirbelstürmen und Rucksackbomben schon wieder die Aussicht auf eine neue, noch größere. Wenn es wahr ist und aus der Vogelgrippe eine Pandemie wird, geht es hier demnächst vermutlich zu wie in Stephen Kings "Das letzte Gefecht", in dem eine ausgekommene Supergrippe die Zimmerpreise ins Bodenlose fallen läßt. Daß es tatsächlich zum grippalen Super-GAU kommen könnte, wird aber nicht nur von Bernard Vallat von der Weltorganisation für Tiergesundheit angezweifelt: "Wir stecken mitten in einer Psychose. Die Erklärungen zum Bevorstehen einer Pandemie entsprechen nicht der wissenschaftlichen Realität." Eine Psychose mit verkaufsfördernden Nebenwirkungen, wie man auf einer von der ACE Handels- und Entwicklungs GmbH betriebenen "Zivilschutzhomepage" nachlesen kann: "Obwohl wir uns über Bestellungen von Atemschutzmasken nicht beklagen können, so schien uns das Interesse in Deutschland, Österreich und der Schweiz doch etwas gering. Das hat sich in den letzten Tagen schlagartig geändert."

Kein Wunder: Unter der Headline "Eilt: Vogelgrippe erreicht Europa!" ließ der Hersteller verschiedener Atemschutzsysteme die Medien uneigennützig wissen, daß es langsam Zeit wäre, an grippalen Zivilschutz zu denken. Alles recht einleuchtend; wenn die Leute in Tokio mit Erfrischungstüchern vor dem Mund herumlaufen, dann können wir das auch - wären da nicht noch ein paar ganz schwere Fälle, die die Vogelgrippe nicht nur für eine Psychose, sondern für eine Erfindung der Industrie halten. Mit Impfstoffen, die eine Pandemie bekämpfen oder erst gar nicht zum Ausbruch kommen lassen, hat man eine Lizenz zum Gelddrucken. Und manche meinen gar, die in Rumänien und der Türkei verendeten Tiere seien nicht an der sogenannten "Vogelgrippe" gestorben, sondern an anderen Krankheiten, ausgelöst durch Umwelteinflüsse und der Haltung unter schlechtesten Bedingungen. Auch diese Ansicht klingt irgendwie logisch, zumal man der Pharmaindustrie ohnehin mit Mißtrauen begegnen muß (seit sie sich von Statistikern Krankheiten wie das "Sisi-Syndrom" erfinden läßt, um Medikamente loszuwerden).

Irgendwann kommt halt wieder eine neue Katastrophe die Zeit heruntergeschwommen, und wir haben wieder ein Spielzeug, vor dem wir uns fürchten können. Vermutlich gefällt uns sogar der Gedanke, daß ein kleiner Durchmarsch dem Planeten nicht schaden würde. Gaia wäre es vermutlich recht, wenn ihr ein paar Millionen Leute weniger im Gesicht herumtrampelten. Und sind einmal die Leichen entsorgt, wird auch die Luft wieder besser ... was uns nochmals zu den Atemmasken von ACE bringt. Nachdem nun der Absatz von Vogelgrippeschutzmasken einigermaßen läuft, ist das Team "doch erstaunt, daß unsere restlichen Produkte wie z. B. die Gasmaske DefendAIR, die Brandfluchthaube PARAT C oder das ABC-Survival-Kit sehr wenig in Anspruch genommen werden. Und das, obwohl sich weltweit immer wieder Terroranschläge ereignen und es nur eine Frage der Zeit ist, wann nicht nur Sprengsätze, sondern auch chemische oder biologische Waffen für Anschläge benutzt werden. Offenbar bedarf es - wie bei der Vogelgrippe - auch auf diesem Gebiet einer gewissen Dringlichkeit, um die Menschen aufzuwecken." Wie gesagt: Wir lieben Katastrophen, und der kleine Ausblick, den uns ACE bietet, läßt Eindrucksvolles erwarten. Zum Teufel mit der Vogelgrippe - wir wollen das ganze Paket!

Pandemie hin, EVOLVER her: Dieser Newsletter erreicht Sie wieder auf garantiert unverseuchten, radioaktiv unverstrahlen, gentechnikfreien und biologisch abbaubaren Bits und Bytes. Und der Inhalt ist wie immer von anhaltendem Interesse: aktuelle Frontberichte aus dem harten Alltag zwischen Musik, Frauen, Filmen und ein paar Büchern. Nachzulesen im EVOLVER.

 

Dabei wünscht viel Spaß:

 

Chris Haderer

(EVOLVER-Redakteur und -Seuchenspezialist für Mensch und Tier)

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