Editorial_8. 9. 2003

What time is it?

Früher konnte man an jeder Ecke erfahren, was die Uhr geschlagen hatte. Heute ist man mit winzigen Handtelefonen geschlagen, die auch noch die Zeit privatisiert haben.    08.09.2003

Liebe EVOLVER-Leser und -innen!

 

Manchmal fügt das Schicksal Dinge zusammen, die anderswo aus gutem Grund getrennte Wege gegangen wären. Zum Beispiel beginnt erstens am 10. September im mexikanischen Cancun die nächste GATS-Verhandlungsrunde, bei der es um das Verscheuern öffentlicher Dienstleistungen an private Industrieunternehmen geht. Und zweitens kollidierte Dr. Trash in Traismauer kürzlich - kaum angeheitert - mit einem Plakat, auf dem für ein Urzeit-Museum geworben wurde. Seine interessierte Frage: "Was, dort sind wirklich alle Uhrzeiten der Welt ausgestellt?" ist in diesem Zusammenhang viel weniger bemerkenswert als die literarisch wertvolle Kombination beider Ereignisse: Soll im Rahmen des GATS-Abkommens auch die Uhrzeit privatisiert (wird im Bartenstein-Deutsch wie "liberalisiert" ausgesprochen) werden?

Leider hat es genau den Anschein. Wenn Liberalisierung (wird im Kritiker-Deutsch wie "Privatisierung" ausgesprochen) bedeutet, daß sich der Staat aus einer öffentlichen Dienstleistung zurückzieht und das Feld befreundeten Geschäftemachern überläßt, dann war die Uhrzeit eines der ersten Bauernopfer. Nicht, daß wir dem französischen Vivendi-Konzern nun Tantiemen für die volle Stunde zahlen müssen (das ist erst für 2005 geplant); viel schlimmer ist das kontinuierliche Verschwinden von Uhren aus dem öffentlichen Raum. Auf der Wiener Mariahilfer Straße, vor knapp zwei Jahrzehnten noch ein tickendes Paradies, findet man kaum noch Volks-Chronometer; außer vielleicht über der Auslage von ein, zwei Uhrengeschäften oder beim Westbahnhof; aber da fehlt einem dann wiederum der Vergleich.

Am Bahnhof von Wies-Eibiswald müssen geschlauchte Wanderer überhaupt bis in den Wartesaal vordringen, um auf der Küchenuhr über der Klotür die südsteirische Zeit ablesen zu dürfen. In Lokalen ist es längst nicht mehr üblich, die Gäste über das Fortschreiten der Stunde auf dem Laufenden zu halten, außer es handelt sich um die Sperrstunde; und mit Kirchen ist kaum zu rechnen, weil diese oftmals renoviert und dementsprechend mit Werbetransparenten bauverpackt werden - wie etwa die Barnabitenkirche, auf der man seit einigen Wochen nur noch ablesen kann, wieviel Wasser in Wien pro Stunde recyclet wird, aber nicht, wann besagte Stunde um ist.

Die Folge: Immer weniger Österreicher und deren Frauen wissen, was es geschlagen hat. Immer mehr Kinder kommen in die Pubertät, ohne jemals eine funktionierende Rathausuhr gesehen zu haben - und wir alle kennen die Folgen: Depressionen, Alkoholkonsum, Drogenmißbrauch, Zuchthaus. Daß der österreichische Uhrzeitmarkt längst heimlich liberalisiert wurde, ist hiermit hinlänglich bewiesen. Und jetzt machen die Konzerne auch noch Geschäfte mit dem Sekundenzeiger; vor allem Handy-Hersteller, deren Kampfgurken sowieso alles besser und genauer wissen als ihre Besitzer, und mit denen man immer 1503 anrufen kann, wenn einem nach ein bisserl Ansprache ist.

Eine schlimme Zeit, wenn Sie mir das Bonmot gestatten - aber wir vom EVOLVER haben natürlich wieder eine Lösung parat. Neben ganz wichtigen Neuigkeiten aus der weltlichen Kulturszene (nach der Sommerpause mehr denn je!) flüstern wir Ihnen diesmal auch Ihre ganz persönliche Uhrzeit ins Ohr: Mit dem Punkt am Ende dieses Satzes ist es genau 12 Uhr und acht Minuten. Beep.

 

Mit chron(ometr)ischen Grüßen

 

Chris Haderer

(EVOLVER-Redaktionsuhrologe)

Chris Haderer

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