Kolumnen_Ausweiskontrolle: Big Brother mon amour

Big Brother, mon amour

Sie haben nichts zu verbergen? Dann stehen Sie bereits auf der Lohnliste des Großen Bruders - und sind ein potentieller Denunziant.    04.06.2004

Inflationär kommt er daher, der Große Bruder. "Big Brother", wie er bei Eric Arthur Blair (alias George Orwell) heißt, trägt diesen Namen auch nach seiner Vergewaltigung durch den Endemol-Konzern noch - aber er ist nicht mehr derselbe. Er wurde ausgetauscht, wie Verschwörungstheoretiker behaupten würden, und das nicht einmal heimlich: Ja, ja, "Big Brother", natürlich, eine Fernsehshow über einen Container, in dem Menschen leben. Um die dystopischen Mächte, die, 1948 zu Papier gebracht, ein fiktives 1984 regierten, geht es längst nicht mehr. Da ist keine düstere Stimme, die mit den Worten "Ihr seid Tote" die Zukunft zur Gewißheit macht; nein, Big Brother ist längst keine Warnung mehr, nur noch Unterhaltung, die nicht nachdenklich macht. Hätten wir die Bedeutung dessen, wofür Big Brother im Orwellschen Sinn steht, aus den Geschichtsbüchern tilgen wollen, dann hätte es vermutlich keine besseren Methode dazu gegeben als den unseligen Container. Niemand will mehr wissen, wo der Große Bruder herkommt und warum eine Sendung, in der keiner mit dem anderen verwandt ist, so heißt.

Doch der Große Bruder ist weder eine bestimmte Technologie noch eine Methode. Jemandes böser großer Bruder zu sein, ist eine Lebensart; eine ganz tief in der Seele sitzende Ausrechtung - Verzeihung, Ausrichtung. Bloß keine weißen Flecken im Lebensprofil, auch keine schwarzen Flecken oder welche Farbe auch immer. Nur blinde Flecken darf es nicht geben. Wie der Werdegang eines Rindsschnitzels vom Bauernhof bis auf den Teller dokumentierbar ist, so muß auch der menschliche Lebenslauf jederzeit nachvollziehbar sein.

Der Große Bruder ist keine Datenbank, die das Individuum zur Nummer hochrechnet, keine Verknüpfung, keine genormte Schnittstelle, kein Data-Warehouse, wie solche Systeme im Jargon der Computer-Junkies zu Recht heißen. Der Große Bruder ist der Gedanke, der überhaupt zur Entwicklung solcher Datenkaufhäuser geführt hat, die per Knopfdruck Tausende Informationen zum binären Bild eines Menschen gerinnen lassen. All das geschieht natürlich nur, um unseren Planeten sicherer zu machen - Sie wissen schon: Terrorbekämpfung, organisiertes Verbrechen, Menschenhandel und so weiter Und natürlich, um uns das Leben angenehmer und komfortabler zu gestalten. Weiß der Teufel, wie wir überlebt haben, als wir Kurzparkscheine noch nicht per SMS kaufen konnten...

So kommt es, daß man einen Satz oft hört in letzter Zeit, viel zu oft, und viel zu oft von Leuten, die es eigentlich besser wissen sollten und die auch wissen sollten, daß er ein weitreichender und gefährlicher Satz ist: "Ich habe nichts zu verbergen." Tatsächlich? Staat und Steuer kennen jedes Ihrer Lebensdetails. Firmen wie Herold fahren mit dem Verschachern Ihrer Daten ein kleines Vermögen ein. Billa weiß, was Sie am liebsten auftauen. Dank "Section-Control" fragt sich die Polizei, was Sie letzten Freitag drei Stunden lang auf einem Autobahnparkplatz getrieben haben. Und daß Ihnen die Soletti-Packung im Supermarkt schon im Regal entgegenwinkt, machen Funkchips möglich. Die Forderung der Exekutive nach mehr Überwachungskompetenz, mehr Videokameras auf öffentlichen Plätzen, digital codierten Biometriedaten und RFID-Chips in Ausweisen ist nur die Spitze des Eisbergs. Was sich sonst noch unter der sumpfigen Wasserlinie verbirgt, will man eigentlich gar nicht mehr wissen - obwohl man es sollte. In den USA sind zur Zeit beispielsweise über 120 Data-mining-Programme in verschiedenen Regierungsstellen alleine mit der Auswertung von Flugdaten beschäftigt. Möglicherweise auch den Ihren - aber Sie haben ja nichts zu verbergen...

Was heißt es, wenn man nichts zu verbergen hat? Wenn man sich freiwillig dazu bekennt, nichts zu verbergen zu haben, ohne daß es überhaupt einen Vorwurf gäbe? Was bedeutet es, in vorauseilendem Gehorsam nichts zu verbergen zu haben, in einem Moment, in dem nicht einmal ein Verdacht im Raum steht? Es heißt, daß man die Verantwortung am Eingang zur Republik abgegeben hat (und sie jetzt im schmuddeligen Hinterzimmer der Demokratie mit der Verfassung Tarock spielt). Es bedeutet, daß es keine Intimität mehr gibt und Sie das Recht auf Geheimnisse auch in Zukunft nicht mehr einfordern können, wenn Sie es einmal abgegeben haben. Ab dann haben jeder Mensch, jede Behörde und jedes Unternehmen sogar das Recht zu erfahren, ob Sie schwul, lesbisch oder bisexuell sind, welcher Glaubensrichtung Sie angehören, ob Sie dann und wann ein Glas zu viel trinken, ob Sie Ihre Stimmung hin und wieder mit THC oder anderen Freudenspendern heben, ob Sie sich nach dem Pissen auch die Hände waschen und welche kruden politischen Veranstaltungen Sie besuchen. Wenn Sie nichts zu verbergen haben, stehen Sie schon auf der Gehaltsliste des Großen Bruders, der wie der Rattenfänger von Hameln durchs Land zieht und fortträgt, was Sie nicht zu schätzen wissen. Sie sind ausgetauscht worden, und Sie haben es sich gefallen lassen, haben gelacht, getanzt und gescherzt, weil Sie ja nichts zu verbergen hatten - und auch nie wieder etwas zu verbergen haben werden, weil Sie gar nichts mehr verbergen können.

"Die Demokratie", ließ Axel Corti ein Jahr vor dem Orwellschen Datum ein Manuskript enden, "muß nur gegen die Verwalter verteidigt werden. Nie gegen die Demokraten!"

Und genau darum wird es in dieser Kolumne gehen.

Chris Haderer

CROPfm Big Brother News: Frontberichte aus dem Land des Großen Bruders


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