CROPfm Big Brother News: Frontberichte aus dem Land des Großen Bruders
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20 Minuten in der Zukunft: Die Europäische Union ist zur Festung geworden und Menschen zu digitalen Bewegungsmeldern. Zwei und zwei ist fünf. 21.10.2005
-----Original Message-----
From: Chris Haderer [mailto:haderer@evolver.at]
Sent: October 21, 2015 0:07 PM
Subject: 20 Minuten in der Zukunft
Tiefer Graben. Nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001 hatte der Überwachungsstaat leichtes Spiel. Gesetze, mit denen die Privatsphäre der Bürger außer Kraft gesetzt wurde, passierten praktisch über Nacht den Senat und verwandelten die USA in den folgenden fünf Jahren in ein digitales KZ. Obwohl Europa sich als den Guten darstellte und die Amerikaner hinter vorgehaltener Hand anprangerte, wurden auch die Polizeibehörden in den EU-Staaten schrittweise mit erweiterten Privilegien ausgestattet. 2003 erzwang Amerika von der Europäischen Union die Einführung von neuen Reisepässen mit digital verschlüsselten Biometrie-Daten des Besitzers. Die neuen Pässe, die ab dem 26. Oktober 2005 ausgegeben wurden, enthielten außerdem Funk-Chips, die berührungslos abgefragt werden konnten.
Obwohl es in fast allen europäischen Ländern Proteste verschiedener "Privacy"-Organisationen gab, verlief die Einführung der neuen Personaldokumente ohne nennenswertes Medienecho und dementsprechend ohne Anteilnahme der Bevölkerung. Daß die Funk-Chips praktisch überall mit mobilen oder stationären Lesegeräten ohne Wissen des Paßinhabers abgefragt werden konnten, gelangte zwar an die Öffentlichkeit, jedoch nicht ins Bewußtsein derselben. Dem Staat stand damit - neben den Mobilfunkgeräten - ein Instrument zur Verfügung, das die Bewegungen jedes einzelnen Bürgers erfassen und in ein Profil umsetzen konnte.
Einzelne Privacy-Aktivisten veröffentlichten im Internet Anleitungen, wie man die Funk-Chips außer Kraft setzen konnte, ohne den eigentlichen Paß zu zerstören - "kreativen Widerstand" nannten sie den eingeschlagenen Kurs. Eine Möglichkeit, sich der permanenten Ortung zu entziehen, bestand darin, den Paß in einem stabilen Alu-Etui aufzubewahren, um ihn vor Beschädigungen zu schützen. Ein anderer, leider viel zu selten umgesetzter Ratschlag war, den Paß mit einem kurzen Bad in der Mikrowelle schonend auf die heißen Sommermonate vorzubereiten.
Diese neue Generation von Reisepässen war aber nur ein Puzzlestein eines größeren Bildes, dessen Ausmaße erst viel später sichtbar wurden. Am Ende des Jahrzehnts wirkte die EU - trotz ihrer inneren Zerrissenheit und ausgebluteten Wirtschafts- und Ressourcensituation - nach außen hin wie eine Festung. Es war der tiefste Graben, den je ein Staatengebilde um seine Grenzen hatte ausheben lassen; praktisch unüberwindbar.
Man muß Vertrauen haben. Im Jahr 2010 wurde Europa vom virtuellen bis zum physischen Raum zu einer Festung hochvernetzt. Eine zentrale Kontrollbehörde in Brüssel erledigte im Rahmen der Terrorforschung die Auswertung der von den lokalen Behörden aufgezeichneten E-Mail- und Mobilfunkverbindungsdaten der EU-Bürger. Sie schrieb bereits 2009 zwingend die Authentifizierung von Computeranwendern durch Digital Rights Management-Systeme vor.
Während die internen Kontrollmechanismen der Union immer übergreifender wurden, konnte auch niemand mehr eine Schengen-Außengrenze überschreiten, ohne entweder "Bürger eines vertrauenswürdigen Staates" zu sein oder sich einer biometrischen Abtastung zu unterziehen. Das bedeutete: Die EU wurde zu einem unsicheren Ort für illegale Zuwanderer, Flüchtlinge oder Aussteiger. Wer nicht in der Einwohner- oder Transit-Datenbank zu finden war, mußte zwangsläufig ein Illegaler sein – er tat daher gut daran, sich von allen bekannten Kamerasystemen (und damit auch vor den Ballungszentren) fernzuhalten. Grenzen waren für ihn tabu, ebenso der Zugang zu Behörden, Krankenhäusern, Sozialeinrichtungen und ähnlichen Institutionen.
Es liegt im Wesen von Datenbanken und Netzwerken, daß alle darin erfaßten Informationen früher oder später verknüpft und ausgewertet werden. Anfang 2000 waren sensible Informationen (beispielsweise medizinische Aufzeichnungen) dank lokaler Datenschutzgesetze vor Mißbrauch sicher (und wenn nicht das, so wurde die Ahndung erleichtert). Im Jahr 2005, kurz nach den Terroranschlägen in London, wagte der britische Innenminister Charles Clarke einen erneuten Vorstoß für eines seiner Lieblingsprojekte. Präventiv wollte er die Mobilfunk- und Internet-Daten aller EU-Bürger auf Vorrat speichern lassen. Da sein Vorhaben in krassem Widerspruch zur Menschenrechtskonvention stand, empfahl er, die Konvention umschreiben zu lassen. Tatsächlich wurde die Menschenrechtskonvention im Mai 2006 novelliert. Sie erlaubte nun umfangreiche Überwachungsmaßnahmen, wenn diese nicht mit lokalen Gesetzen kollidierten. Durch verschiedene Änderungen in den Sicherheits(polizei)-Gesetzen der Staaten wurden "Lauschangriffe im Gefahrenfall" legalisiert, wodurch sie auch keinen Verstoß gegen die Menschenrechte mehr darstellten. Ein ähnlicher Schwachpunkt wurde auch in der Anti-Folter-Konvention (trotz massiver Proteste) bis heute nicht geändert: dem Papier nach verstößt Folter in Staaten, in denen sie per Gesetz erlaubt ist, auch nicht gegen geltendes Menschenrecht.
Herr im eigenen Haus. Innereuropäisch konnte die Verbrechensrate bis zum Jahr 2015 auf knapp acht Prozent gesenkt werden. Meistens handelte es sich um Verbrechen im Affekt, aus Leidenschaft, aus Eifersucht oder unter dem Einfluß irgendwelcher Drogen. Geplantes Verbrechen oder "schnelle" Einbruchskriminalität fanden nicht mehr statt, weil im Rahmen der Rasterfahndung jeder gefunden wurde.
Österreich stellte in der Statistik keine Ausnahme, sondern ein Vorbild dar. In vorauseilendem Gehorsam hatten verschiedene MinisterInnen im neuen Jahrtausend mit dem Aufbau von Datenbanken begonnen, die weitaus mehr Daten erhoben, als von der Europäischen Union gefordert wurde. Der Bildungsevidenz, die Schul- und Betragensnoten oder das religiöse Bekenntnis mit der Sozialversicherungsnummer verknüpft und 64 Jahre lang speichert, folgten weitere Datenbanken: Alkoholismus, Sexualität, Krankheit, politische Aktivität - wobei nicht alleine der Staat Nutznießer der Informationen ist. Versicherungen und Marketing-Unternehmen gehören zur Stammklientel der verschiedensten Bevölkerungsdaten, die seit Anfang der 90er Jahre aktiv vom Innenministerium angeboten wurden.
Und das System weiß alles. Wenn es bemerkt, daß man abends auswärts ist und der Blutdruck plötzlich steigt, bekommt man per SMS automatisiert die Warnung, auch ein Kondom zu verwenden, andernfalls man sich jeglichen Versicherungsschutz dorthin schreiben kann, wo es gerade Spaß macht. Eventuell.
Bewegliche Ziele. Es geschah nicht unter Ausschluß der Öffentlichkeit, trotzdem geschah es in aller Stille. Ohne auf großes Medienecho zu stoßen, wurde der Einsatz von Videokameras einerseits liberalisiert (was die Anzahl der Installationen betraf) und im Gegenzug staatlicher Zugriff auf jede Kamera garantiert. Ganz schnell hatten wir uns an die Kameras in Zügen gewöhnt, wie überall sonst auch, wie in jedem Fall, vor dem man steht wie vor einem unbezwingbaren Felsen.
Mitte 2006 begann der Einsatz neuer Digitalkameras, die nicht nur kleiner und lichtempfindlicher waren als alle Vorgängermodelle, sondern auch hochauflösende Bilder in mehreren Spektralbereichen aufnehmen konnten. Das infrarote Spektrum ist für die automatische Erkennung von Gesichtern besonders geeignet, weshalb dank der neuen Kamerageneration im Frühjahr 2007 die Einführung von Motion-tracking-Systemen begann, die Gesichter von an der Kamera vorübergehenden Passanten identifizieren konnten. Man brauchte sich nur an einer Kamera vorbeizubewegen, und schon flimmerte irgendwo der dazupassende Name über einen Monitor. Die flächendeckende Videoüberwachung öffentlicher Plätze und Beförderungsmittel war Ende 2008 abgeschlossen. Ein Jahr vorher, im September 2007, ging die vollautomatische Kennzeichenerfassung an den Ein- und Ausfahrten von Autobahnen und Städten in Betrieb. Ab Jänner 2008 wurden nur noch Neuwagen mit eingebautem GSM-Chip ausgeliefert, der Versicherungen, Straßen- und Autobahnbetreibern sowie der Exekutive Auskunft über die genaue Position des Wagens geben konnte.
Bedrohter Lebensraum. Seither gibt keine Illegalen mehr auf dieser Welt, zumindest nicht auf öffentlichen Plätzen, die von Kameras überwacht werden; nicht auf Straßen und auch nicht in U-Bahnen oder Zügen. Ende des Jahrzehnts war die Welt der Illegalen (die eine undurchsichtige Melange aus Obdachlosen, Arbeitslosen, Berufslinken, Berufsrechten, Junkies, Drogenhändlern, Schwarzfahrern, Migranten etc. ist) eine Insel, deren Ränder ins Meer abbröckelten. Ihr Lebensraum schmolz mit der Geschwindigkeit der Polkappen dahin; beides wird in eine Katastrophe münden.
George Orwell hat sich geirrt, und das ist bitter. Orwell nahm an, daß es jemand geben würde, der dem Großen Bruder die Stirn bietet, so schwer es auch ist. Er ging davon aus, daß "die Freiheit, zu sagen, daß zwei und zwei gleich vier ist", nicht ein Anliegen von ein paar digitalen Guerilla-Kämpfern darstelle, sondern eines der Allgemeinheit. Aber wenn die Allgemeinheit eines auszeichnet, dann ist es ihre Bequemlichkeit - und deshalb hat sie viele als Dienstleistungen maskierte Übergriffe auf ihre Privatsphäre anstandslos akzeptiert.
Offenbar lag Orwell also daneben, als er annahm, es würde einen erfolgreichen Winston geben. Sein Anliegen einer toleranten Welt ist bestenfalls in Hochschulkursen angekommen, wo es als Basismaterial unzähliger Utopien dient. Dort ist es zwar gut aufgehoben, aber leider auch gut vor der Wirklichkeit geschützt.
Modern Times. George Orwells Visionen sind ein klein wenig in die Jahre gekommen, wie es scheint. Sein Name ist - trotz des deMolschen "Big Brother Container" - das Synonym für Uberwachung schlechthin; trotzdem hat der Stand der Technik seine Visionen zum Teil eingeholt.
Eine Überwachung wie in "1984" gibt es nicht; sie wäre ohne den Computer auch niemals in anderer Form möglich geworden. Zu diesem Schluß kam Dr. Niv Ahituv, Akademischer Direktor des Center of Internet Studies an der Universität Tel Aviv, schon im Jahr 2001. Seiner Arbeit "The Open Information Society" ging es leider nicht anders als auch vielen Arbeiten von George Orwell: sie setzte mit der Zeit akademische Patina an. Als Zitatenquelle verhübschte sie unzählige Artikel und Dissertationen, ohne nennenswerten Einfluß auf den Stand und den Weitergang der Dinge zu nehmen.
Die in jedem Zimmer installierten Televisoren à la Orwell, die Ton und Bild an den Blockwart liefern, brauchen wir nicht. Wir haben ja Mobiltelefone, über die wir anpeilbar sind - und jede Zahlung geschieht über den Sozialchip. Die Vorsorgeuntersuchung erstellt ein hormonelles Profil, und über die aus der Bildungsevidenz stammenden Statistikmodelle kann nun auffälliges Verhalten (sexuell, alkoholisch etc.) aus den Schulnoten herausgerechnet werden. Zwei Werte ergeben einen dritten: Einkaufsverhalten und Gesundheitsdaten lassen den Lebenswandel erahnen und sogar auf Suchtverhalten schließen. Wer so viele Informationen frei Haus geliefert bekommt, braucht die simplen Televisor-Lauschgeräte, die einen zufällig ausgewählten Haushalt abhören, tatsächlich nicht mehr. Die Diktatur der neuen Zeit ist binär.
Damit hatte George Orwell nicht rechnen können.
Aber wir hätten es tun sollen, vor zehn Jahren.
"20 Minuten in der Zukunft" ist Edison Carters News-Show in der britisch/amerikanischen TV-Kultserie "Max Headroom" entliehen.
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