Kolumnen_Ausweiskontrolle: Stachel im Fleisch

Stachel im Fleisch

Die Suchmaschinenanbieter wollen sich zu einem Ableger der "freiwilligen Selbstkontrolle" formieren. Unliebsame Inhalte sollen zukünftig aus den globalen Datenpools ausgefiltert werden.    03.03.2005

Das Internet ist eine globale Wissensdatenbank, die Menschen den einfachen Zugang zu einer unglaublichen Informationsfülle erlaubt - das ist eines der vielen Versprechen, die seit dem Durchbruch des World Wide Web um die Welt geistern: das Internet als verbindendes Medium, das zugleich weltumspannende Demokratie ermöglicht. Diese nette Vision wurde allerdings längst von der Wirklichkeit eingeholt. Zwar hat sich das Netz der Netze neben den etablierten Medien als unabhängiger Kanal herausgestellt, allerdings gerät die Nachrichtenfreiheit mehr und mehr unter Beschuß. Während diktatorische Staaten wie China die Netzinhalte filtern und nur Systemkonformes zulassen, sehen sich Websites wie indymedia.org zunehmend Angriffen ausgesetzt. Nun warten die Suchmaschinenbetreiber, deren Datenbanken dafür sorgen, daß in der gigantischen Datenmenge des WWW überhaupt etwas gefunden wird, mit einer Schreckensnachricht auf: sie wollen "böse" Inhalte in Zukunft zentral ausfiltern und damit das Web ein bißchen sauberer, familienfreundlicher, pflegeleichter - und verlogener - machen.

 

Freiwillige Selbstbeschneidung. Am 24. Februar gaben Google, Lycos Europe, MSN Deutschland, AOL Deutschland, Yahoo, T-Online und t-info in Berlin bekannt, eine unter dem Dach der Freiwilligen Selbstkontrolle Multimedia-Diensteanbieter hausende Selbstregulierungsorganisation gründen zu wollen. Erste Aktion soll die Ausfilterung aller Web-Adressen sein, die von der deutschen Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Medien indiziert wurden. Allerdings "sollten die von der BPJM als jugendgefährdend indizierten URLs, von denen die Mehrzahl Server im Ausland betreffen würden, lediglich für den deutschen Sprachraum ausgefiltert werden", schreibt Monika Ermert in einem Artikel bei "heise-online". "Auf keinen Fall wolle man Nutzern in anderen Ländern die deutschen Bewertungen aufzwängen." Pläne, wie das technisch umgesetzt werden soll, liegen noch nicht auf dem Tisch, weshalb sich Thomas Dominikowski von Lycos angesichts der zu erwartenden Kosten gleich eine gesamteuropäische Lösung wünscht.

Kleiner Motivationsschub im Hintergrund: "Wenn in den kommenden Jahren keine wirksamen Selbstregulierungsmechanismen in den Mitgliedsländern entstehen, könnte der Druck auf die Europäische Kommission wachsen, hier gesetzgeberisch tätig zu werden", meint Richard Nash, Generalsekretär des Internet-Verbands EuroISPA. Und wer will sich schon von der EU regulieren lassen, wenn er selbst die Regeln bestimmen kann? Die geplante Selbstbeschneidung mag freiwillig sein, demokratisch ist sie jedenfalls nicht. Eine selbstgewählte Personengruppe beschließt hinter verschlossenen Türen, was im Web gefunden werden darf und was nicht. Im einfachsten Fall ist dieses Bündnis niemandem verpflichtet und kann nach eigenem Ermessen Sites sperren oder listen. Bislang steht auch auch noch nicht fest, ob ein Anwender, der nach einer gesperrten Site sucht, überhaupt einen Hinweis erhält, daß die Site zwar existiert, der Link aber nicht ausgegeben wird.

 

Transparente Google-User. Interessant ist der Zensurplan auch im Zusammenhang mit der Praxis von Google, seit dem Start der Suchmaschine alle Anfragen mit der IP-Adresse des Absenders verknüpft zu speichern. Was bei Datenschützern jetzt schon leichtes Sodbrennen verursacht, dürfte in der Zukunft wohl zu Bauchkrämpfen führen. Immerhin läßt sich auf diese Art und Weise recht einfach ermitteln, wer nach verbotenen Inhalten gesucht hat. In den 30er und 40er Jahren stand das Hören von Feindsendern für lange Zeit unter Strafe. Wer kann ausschließen, daß Internet-Usern in Zukunft nicht ähnliches blüht, bloß so gefällig verkauft, daß sie auch noch dankbar dafür sind? Ein Informationsministerium auf Vereinsbasis, wie es nun in Deutschland geplant ist und an dem sich Österreich vermutlich orientieren wird, ist der falsche Weg, weil sich darin die Wertvorstellungen einer kleinen Personengruppe ausdrücken, selbst wenn sich diese Gruppe offiziell am Index der verbotenen Schriften/Filme/etc. orientiert. Wer wird die Kontrolleure kontrollieren? Woher soll der Bürger wissen, ob sich die Tätigkeit des Suchmaschinen-Zensurvereins noch in gesetzlichen Bahnen bewegt? Woher soll der Volkszorn von einem Hermann Nitsch erfahren, wenn Google beispielsweise das Orgien-Mysterien-Theater verschweigt, weil einem einschlägigen Parteifunktionär, der zufällig in einer maßgeblichen Gruppe sitzt, diese entartete Kunst mißfällt?

 

Digitaler Piratensender. Als in den Sechzigern des Internet zuerst als Datenverbund zwischen Universitäten aufgebaut wurde, waren Dezentralität und Autonomie Kernanforderungen. Das Netz sollte selbst nach einem Atomschlag, der eine unbekannte Anzahl Netzknoten lahmlegen würde, weiterhin funktionieren. Auf diesem immer komplexer werdenden Verbund setzten mehr und mehr Kommunikationssysteme auf: Messageboards, Mailboxen und Anfang der 90er Jahre auch noch das World Wide Web. Vom anarchistischen Anspruch des Netzes, das mehr oder weniger von seinen Usern reguliert wurde, ist heute nicht mehr viel übrig geblieben. (Die Kämpfer im elektronischen Untergrund, die immer noch aktiv sind, erinnern ein wenig an die Piratensender der 60er Jahre, die von außerhalb der Dreimeilenzone die Küsten beschallten, auch wenn ihnen ein anderes Schicksal zu wünschen ist ...) Nach den Abenteurern betraten Mitte der Nineties zunächst Werbeagenturen zaghaft den neuen Kontinent, um ihn dann nach amerikanischem Vorbild in Besitz zu nehmen. Der Rest ist Geschichte. Der Anspruch auf freie Information und Kommunikation wurde großzügig durch Geschäftsmodelle ersetzt, die aus der Ware Information Kapital schlagen wollten. Der dotcom-Crash hat daran nichts geändert, der kollektive Wunsch der Wirtschaft nach Regulierung und der enorme Durchsatz des Web haben zusätzlich den Staat aufgescheucht - in unserem Fall die EU, die Ansprüche stellt, als hätte sie das Internet erfunden. Das World Wide Web ist zu dem geworden, was es zwangsläufig werden mußte: einem Vertriebskanal für alle möglichen Produkte. Information ist eines davon, wenn auch ein essentielles.

 

Long time no find. Wenn Sie im Jänner mit google.at beispielsweise nach dem Begriff "Leng-Tsche" suchten, förderte die größte Suchmaschine der Welt gerade einen Treffer zu Tage. (Mittlerweile, am 1. 3. 2005, sind es acht, wobei sich die hinzugekommenen auf eine Radiosendung bei CROPfm beziehen.) Wer Informationen über die sicher nicht ganz unbekannte "Folter der 100 Teile" haben will, die der chinesische Kaiser 1905 einem Herrn namens Fu-Tschu-Li angedeihen ließ, muß wissen, daß er in Georges Batailles "Die Tränen des Eros" zu suchen hat - aber woher? Das Internet wäre nach wie vor weitgehend unentdecktes Land, wären mit dem Netz nicht auch die Suchmaschinen gewachsen, in deren Datenbanken praktisch jede Website der Welt gespeichert ist - oder gespeichert sein sollte. Aufgrund der enormen Datenmenge stoßen auch technisch ausgefeilte Suchmaschinen oft an ihre Grenzen; neue Sites stehen bisweilen wochenlang in der Warteschleife, bis sie indiziert werden. Zudem geraten Suchmaschinen immer öfter in Verdacht, Suchergebnisse zu filtern und politisch unliebsame Inhalte auszusortieren - als besonders vorauseilende Form der "freiwilligen Selbstkontrolle."

 

Graue Index-Eminenzen. Wir geben immer mehr Verantwortung - und damit auch Freiheit, was nicht immer auf den ersten Blick gekoppelt ist - an andere ab. Diese anderen sind der Staat, der - um unser Sicherheitsgefühl zu steigern - die Einhaltung immer strengerer Regeln exekutiert; es sind Telekomfirmen, die uns das Leben mit ihren Diensten so einfach gemacht haben, daß 85 Prozent aller Handy-Telefonierer nicht einmal mehr die Rufnummer ihres Partners im Kopf haben; es sind elektronische Sittenwächter, die wir auf dem Computer installieren, damit die sogenannten Kids nicht zu Pornoseiten kommen, während wir nach einem harten Tag an der Börse bei Gott keine Zeit für so komplexe Dinge wie Kindererziehung haben. Diese anderen sind graue Eminenzen, die irgendwo darüber entscheiden, daß Sie und ich nichts von Herbert Achternbuschs Film "Der Depp" erfahren müssen, geschweige denn, daß es ihn überhaupt gibt.

Kein Hahn wird nach Pier Paolo Pasolinis "Die 120 Tage von Sodom" krähen, wenn er in der Amazon-Datenbank nicht aufscheint - was bei amazon.de tatsächlich der Fall ist; im restriktiven England allerdings, wo selbst der "Exorzist" bis in die 90er Jahre auf dem Index stand, liefert amazon.co.uk den Streifen binnen zwei Tagen aus. Auch die österreichische Filmproduktion "Funny Games" (1997) von Michael Haneke, die recht gewalttätig daherkommt, ist nur bei Amazon USA zu haben. Und wenn erst einmal die ganze Welt davon überzeugt ist, daß es sich bei "Big Brother" um einen niederländischen Menschen-Contrainer handelt, erübrigt sich mangels Nachfrage auch der Nachdruck des Orwellschen Gesamtwerks. Heutzutage müssen Bücher nicht mehr öffentlich verbrannt werden wie ausgehobene "Windows"-Raubkopien; es genügt, sie aus dem Netz - und damit aus dem globalen Gedächtnisspeicher - zu löschen. Auf diese Weise wird nicht zuletzt Kulturgeschichte neu geschrieben. Wie viele Leute in Ihrem Bekanntenkreis haben beispielsweise Regisseur John Boormans Klassiker "Deliverance" (dt. Titel: "Beim Sterben ist jeder der Erste") in der ungeschnittenen Version gesehen? Die Szene, in der Burt Reynolds seine beiden Freunde aus der Gewalt ihrer Entführer befreit, dauert im Original um einige Minuten länger als in der Kurzfassung, die seit Erfindung des Privatfernsehens ausgestrahlt wird - offenbar wird die Originalversion gar nicht mehr gehandelt. Aber wem, bitteschön, der in den Jahren nach der Trennung von ABBA geboren ist, fällt das überhaupt auf?

Irgendwie ist die Welt trotz multidimensionaler Vernetzung flacher geworden.

 

Dafür oder dagegen. Meinungs- und Informationsfreiheit sind gesellschaftliche Werte. Eine Gesellschaft muß in ihrer Selbstdefinition also berücksichtigen, wie sie mit Information und Wissen umgehen will. Eine Entscheidung über das "Informations-Management" obliegt keiner privat organisierten Gruppe und auch nicht der jeweiligen Regierung. Es ist eine Grundsatzentscheidung, die eine Gesellschaft als ganzes beschließen und in ihrer Verfassung verankern muß. Wollen wir Zensur in Zukunft zulassen, in welcher Form auch immer sie uns entgegentritt, oder nehmen wir die Verantwortung für den Umgang mit Informationen in eigene Hände? Im Internet finden sich Hunderte Anleitungen für den Bau von Bomben und anderem Terrorgerät. Diese Informationen sind für uns alle mit ein bißchen Rechercheaufwand verfügbar - trotzdem bauen wir keine Bomben und werfen keine Flugzeuge auf anderer Leute Häuser. Die allgemeine Verfügbarkeit von Wissen kann der Gesellschaft Nachteile bringen, wenn Informationen gegen sie verwendet werden. Diese Gefahr läßt sich nicht ausschließen, aber wie mit ihr umgegangen wird, ist eine Kenngröße für die moralische Qualität - so wie sich eine Gesellschaft für oder gegen Folter entscheiden muß und diese nicht im Anlaßfall gutheißen kann, wenn ein "höheres Interesse" dahintersteht.

Chris Haderer

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