Kolumnen_Der Zivilist: Ein Körper für Antonella

Ein Körper für Antonella

Auch im neuen Jahr gilt es wieder wichtige Fragen zu entscheiden. Zum Beispiel: Wie lange müssen wir noch die lieblose Zurschaustellung abgeschnittener Köpfe ertragen?    30.01.2004

Blättern wir gemeinsam das aktuelle Zeitschriftenmaterial durch: Zunächst einmal stellen wir ganz nüchtern fest, daß Geschlechterparität ein Begriff ist, der scheinbar noch keinen Einlaß in die Gehirne diverser Redakteure gefunden hat. Und das ist irgendwie seltsam, weil doch die Privatwirtschaft längst dahintergekommen ist, daß Frauen mehrheitlich streßresistenter und kooperativer sind als Männer. Aber wir wollen ja hier nicht emanzipierter sein als die Emanzen...

Trotzdem finden sich vor allem in den Wirtschaftsblättern respektive post-kapitalistischen Print-Formaten nach wie vor fast auschließlich Männer - Verzeihung, Manager - abgelichtet. Da diese Top-Leute (allen voran Bankdirektoren und Aufsichtsräte) bekanntermaßen nicht gerne vor Photographen posieren, weil ja kein "wichtiger" Mensch für sowas Zeit hat, präsentiert man die Köpfe dieser Leute in immer denselben Porträtaufnahmen, deren Durchschnittsgröße in Ermangelung besseren Photomaterials meist eine Viertelseite ausmacht. Sind mehrere dieser unansehnlichen Nahaufnahmen nebeneinander plaziert, spricht man in Insider-Kreisen von sogenannten "Schädelparaden".

Der einzige Lichtblick in letzter Zeit war Österreichs lachsfarbene Tageszeitung, die den Bann brechen wollte. Und so gab man Antonella Mei-Pochtler (einer Frau, man höre und staune!) eine eigene Kolumne im Busineß-Teil, in der die wunderschöne Senior-Vizepräsidentin und Geschäftsführerin der Boston Consulting Group Woche für Woche Nachhilfeunterricht für hinterfotzige NLP-Adepten, Tips für Motivations-Gurus oder schlicht Binsenweisheiten für Abteilungsleiter abfeuert. Nicht, daß das besonders aufregend wäre, aber immerhin.

Was dann allerdings doch aufregt: So eine gutaussehende Frau - aber wo steckt der Körper? (Ja, ja, irgendwann erweisen wir uns immer wieder als die alten Machos, die Sie stets in uns vermutet haben.) Mens sana in corpore sano, hieß es früher. Aber wie soll man die Sinnhaftigkeit dieses Spruchs beurteilen, wenn man keine Ahnung hat, wie Frau Mei-Pochtler denn nun eigentlich aussieht? Das könnte immerhin sogar ihre Geschlechtsgenossinnen interessieren... Außerdem besitzen sogar Avatare einen Körper, auch wenn sie den nur im Computer spazierenführen können. Reduziert man aber eine reale Frau auf ihre Bildung oder ihren Intellekt, dann finden wir das ebenso falsch wie das überholte, chauvinistische Pendant.

Wie konnte all das passieren? Steckt dahinter etwa der vorauseilende Gehorsam der redaktionellen Entscheidungsträger? Oder das unausgesprochene Verbot, etwas am bestehenden Abbildungsdogma zu ändern oder gar Neues auszuprobieren? Letztlich sorgt der systemimmanente Drang, bloß nicht aus der Reihe zu tanzen, um in aller Ruhe Nachberichterstattung betreiben zu können, jedenfalls dafür, daß wir wahrscheinlich auch weiterhin abgeschnittene Köpfe zum Lesefraß vorgesetzt bekommen.

Lange nach all den sinnlosen Silvestervorsätzen können wir nun also endlich einen ersten Wunsch für 2004 (und auch später) formulieren: Schluß mit den Guillotinierten! Gebt Antonella einen Körper!

Ernst Meyer


 

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