Musik_A Certain Ratio - The Graveyard and the Ballroom

Depressive Grüße aus Manchester

Wer renoviert heute noch Tapes von Joy-Division-Zeitgenossen? Soul Jazz Records aus London - und zwar mit gutem Grund.    23.06.2004

Soviel Genialität muß für die Nachwelt erhalten werden. Die durch Margret Thatchers konservative Regierung verursachte Wirtschaftsflaute erzeugte in Großbritannien eine Depro-Atmosphäre und bescherte den Nährboden für den weltbesten (weil ehrlich verzweifelten) "White Funk" - ja, richtig gelesen - der Musikgeschichte. Bands wie A Certain Ratio, Joy Division oder Section 25 stehen heute noch als anprangernde Mahnmale in der New-Wave-Musikgeschichte herum.

In Manchester und Sheffield war die Jugendarbeitslosigkeit am stärksten zu spüren. Ein Kohlenbergwerk nach dem anderern schloß seine Tore, und gemäß dieser frühen "No Future"-Stimmmung findet sich auf "The Graveyard and the Ballroom" von A Certain Ratio auch nicht ein einziger fröhlicher Song, nicht einmal ein Mut zusprechender Refrain.

Das aus Demo-Fourtrackern (die Songs 1 bis 7 wurden im September 1979 in den britischen Graveyard Studios aufgenommen) und Live-Outtakes (im Oktober 1979 im New Yorker Electric Ballroom live mitgeschnitten, als ACR als Vorgruppe der damals bereits legendären Talking Heads gastierten) zusammengestückelte Album brachte Factory Records 1980 ursprünglich als streng limitiertes Compilation-Tape heraus. Das Label Soul Jazz Records stöberte nun in den Archiven, überarbeitete das Band und veröffentlichte es in Form einer CD-Inkarnation.

Die emotional überwältigende und ganz und gar nicht triviale Sentimentalität der Songs liegt - besonders abseits der bekannten Titel - eben genau in den "verlorenen" Liedern, die man hierzulande gar nicht kennen kann, da sie schon anno dazumal in England kaum erhältlich waren. (Sollte einer der Leser das Cassetten-Original besitzen, bitte melden ...)

Wer bei dem von Jeremy Kerr intonierten Refrain zu "Crippled Child" nicht genausolche Krokodilstränen vergießt wie bei Ian Curtis´ Credo "I Put My Trust In You!" oder bei "Genotype/Phenotye" keine stilistisch direkten Verwandschaftsverhältnisse zu den mehr politischen Gang of Four entdeckt, dem ist ohnehin nicht mehr zu helfen. Solche Leute sollten sich lieber weiterhin jamaikanischen Happy-Ska-Blabla oder indischen HipHop reindrücken. Der intelligente Rest stößt hier mitten ins Herz des englischen Seventies-Wave vor. Diese CD gehört einfach gehört und ist garantiert nicht nur für Musikhistoriker interessant. Schön, daß in Zukunft noch mehr solche Ware auf uns zukommt: Soul Jazz Records laufen sich erst so richtig warm. Große Empfehlung.

Ernst Meyer

A Certain Ratio - The Graveyard and the Ballroom

ØØØØØ


Soul Jazz Records (GB 2004)

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