Musik_Björk - Volta

Planet Björk

Auf seinem sechsten Studioalbum versucht Islands weibliches Enfant terrible an alte Pop-Erfolge anzuknüpfen - und schießt dabei sogar weit übers Klassenziel hinaus.    27.06.2007

Der Begriff "Volta" hat viele Bedeutungen. "Ancora volta" sagt man im Italienischen für "ein anderes Mal". Es gibt einen Stausee und einen Fluß dieses Namens in Nordwestafrika. Der berühmte italienische Naturwissenschaftler, der die Batterie erfand, hieß Alessandro Volta; er gab der Maßeinheit für Stromspannung (Volt) seinen Namen. Und natürlich hat die Volta auch in der klassischen Musik eine Bedeutung - dort ist sie ein 3/4-taktiger Tanz aus der Provence. Man darf "Volta" also mit Fug und Recht als globales Wort bezeichnen.

Es ist mit Sicherheit kein Zufall, daß Björk Gudmundsdottir ihr sechstes Studioalbum so nennt - da "Volta" mehr ist als eine bloße Ansammlung experimenteller (Pop-)Musik. Vielmehr erschafft Björk darauf ihre eigene Interpretation von World Music. Das kann man schon an den Credits erkennen: Eine wilde Mischung internationaler Musikgrößen fand sich im Studio ein, um gemeinsam mit der exzentrischen Diva eines der besten Alben des Jahres einzuspielen.

Hinter den Mischpultreglern war neben Star-Produzent Timothy "Timbaland" Mosley (Hit-Fabrikant u. a. für Justin Timberlake, Nelly Furtado und Snoop Dogg) auch der Björk-bewährte Mark Bell (Ex-LFO, produzierte neben Depeche Mode eben auch ihr "Homogenic") anzutreffen. Für multikulturelle Polyrhythmik, ohne die es keine wie immer geartete World Music geben kann, sorgen sowohl die Drummer Chris Corsano und Brian Chippendale (Lightning Bolt) als auch die afrikanischen Daumenklavierprofis Konono No 1, der aus Mali stammende Kora-Player Toumani Diabate und die besonders unter China-Folklore-Fans bekannte Pipa-Spielerin Min Xiao-Fen. Isländische Nebelhorn-Schwaden liefert ein zehnköpfiges weibliches Blasorchester, und das Kontertenor-Stimmwunder Antony Hegarty (von Antony & the Johnsons) rundet die opulente Akustik noch ab.

 

Da wurde also sehr viel Aufwand für ein sehr ehrgeiziges Projekt getrieben. Und doch ist auf "Volta" nichts mehr von jener Hybris spürbar, die sich während der vergangenen paar Jahre (und zwei Alben) Björks bemächtigt hatte. Wenn Popstars älter werden, geben sie mitunter allzugern dem Druck ihres übergroßen Egos nach und versteigen sich in völlig absurde, wenn nicht gar größenwahnsinnige Machenschaften. Man denke an die Opernstücke, die sich Freddie Mercury weiland selbst schrieb (und die er dann peinlicherweise auch noch mit Montserrat Caballé uraufführte). Auch "Medulla", gottlob das einzige A-cappella-Album Björks, fällt in diese Kategorie. Eines ist klar: Auch wenn sie über einzigartige Stimmen verfügen, sind Pop- oder Rockstars niemals Opernsänger.

Vielleicht hat ja auch Björks zweite Mutterschaft mit dem "Back to Reality"-Zugang zu tun, der die "Volta"-Texte ausmacht. Phasenweise wirken die Lyrics so, als wollte Björk ihrer kleinen Tochter die Welt erklären - oder zumindest einen Leitfaden knüpfen. Dazu paßt auch eine gewisse Naturverbundenheit. Eine Menge "found sounds" wie Hafengeräusche, Regen oder Schneestapfen erzeugen ein mehrheitlich organisches Umfeld, von dem sich dann die abstrakteren Stücke wie "Innocence" umso drastischer abheben.

Wenn Björk über Tsunamis ("Earth Invaders") oder vermeintlich schwangere Selbstmordattentäterinnen ("Hope") meditiert, tritt eine ausgeprägt rationale Sichtweise zutage. Vorbei sind die verspielten Zeiten von "Post" und dem schicken "Homogenic"; auf dem Dancefloor findet eben keine Revolution statt. Und wenn doch, dann im Sinne von "Declare Independence", dem Überraschungs- Hit auf "Volta": Zum ersten Mal quietscht Björk durch einen scharfen Vocoder und verwandelt sich kurzfristig in die Zwillingsschwester von Peaches. Dazu poltern passend ultrabrutale Gabber-Beats. Stellt jenes Stück das mit Abstand härteste des Albums dar, so ist "The Dull Flame Of Desire" das softeste. Dieses wunderschöne Duett mit Antony Hegarty ist eine äußerst gelungene, musikalische Umsetzung des ins Englische transkribierten Gedichts des russischen Dichters Fjodor Tjuttschew (bekannt auch aus Tarkowskis "Stalker"). Beeindruckend ist auch das Intro zu "Wanderlust": Das zehnköpfige Blasorchester imitiert Nebelhörner, ganz so, als würden sich Schiffe auf hoher See unterhalten. Das für sich allein genommen ist schon ein kleines, feines Minimalkunstwerk. Höret die Synkopen!

"Volta" ist vielschichtig, global, wild-romantisch und ungeheuer abwechslungsreich - jedoch nicht das Pop-Album, das Björk in Interviews vorab angekündigt hatte. Dafür fehlt der Platte einfach die nötige Kohärenz. Und gerade das ist ja das Beste daran. Man kommt aus dem Staunen einfach nicht heraus. Grundvoraussetzung ist allerdings, daß man Björks Stimme erträglich findet beziehungsweise sie als ein weiteres Instrument wahrnimmt. Aber das gilt ja ohnehin für alle Björk-Alben ...

Ernst Meyer

Björk - Volta

ØØØØ 1/2


Polydor/Universal (USA 2007)

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