Musik_Gescom - A1-D1

Repeat or die!

Das Autechre-Nebenprojekt liefert auf dieser Doppel-Vinyl-EP repetitive Strukturen, kombiniert mit retrogardistischen Sounds - und schielt damit heftig in Richtung Future-Dancefloor.    05.12.2007

Man ist wohl am besten beraten, wenn man völlig erwartungsfrei an den neuen Release der Briten Rob Brown und Sean Booth herangeht. Wer sich eine Fortsetzung der Autechre-Tradition - nach dem Motto "Und jetzt noch experimenteller, bitte!" - erwartet, wird schier verzweifeln. Wer jedoch die älteren Gescom-Scheiben kennt, der weiß vermutlich, daß die Jungs ihr Alter ego schon immer als Spielwiese für Ideen verwendet haben, die auf ihren Alben keinen Platz fanden.

Niemand assoziiert mit Autechre primär tanzbare Techno-Knaller - und das, obwohl Sean und Rob dem Genre durchaus einiges abgewinnen können. Um auch diesen manifesten Trieben in aller Ruhe nachgehen zu können, etablierten sie etwa 1994 Gescom, eine Abkürzung für "Gestalt Communication". Gescom fungiert nicht bloß als Seitenprojekt Autechres, sondern ist vielmehr ein Kollektiv aus ständig wechselnden Elektronikmusikern. Zur der illustren Schar zählen Russell Haswell ebenso wie Darrel Fitton (Bola) oder Andy Maddocks (Sonic Beat Alliance). Gescom veröffentlichten ihren Output auch auf verschiedenen Labeln (Clear, Orr, Skam). Da die Credits meist fehlen, bleibt häufig unklar, wer denn nun genau an der Entstehung des jeweiligen Tonträgers beteiligt war.

Im Falle von Gescoms neuen Aufnahmen, erhältlich entweder als zwei getrennte EPs oder als eine Kompakt-CD ("A1-D1"), gehen wir der Einfachheit halber einmal davon aus, daß es sich dabei "nur" um Rob und Sean handelt. So klingen sie nämlich auch. Die Tatsache, daß sowohl beim Vinyl-Release wie auch bei der CD auf Tracknamen bewußt verzichtet wurde, schafft ganz automatisch ein zusätzliches Plus an Anonymität - ein Marketing-Trick, der ebenso wie die streng limitierte Auflage von kolportierten 500 Stück ordentlich Druck auf Fans und Liebhaber macht.

 

Aber hören wir uns die Tracks der Reihe nach an:

A1) Rückwärts geloopte Acoustic-Drums, zerhackt und garniert mit Stimmfetzen ("Ah!") shufflen ineinander, daß es eine wahre Freude ist. Die tonalen Elemente bleiben zwei Minuten lang im Hintergrund. Dann dreht sich plötzlich alles um 180 Grad nach vorn. Eine funky Baßlinie, die messerscharf auf der Bassdrum gespielt wird, übernimmt den Vorsitz. Ab da geht es richtig los. Die Baßlinie variiert permanent in der Tonhöhe, die Bassdrum auch, linear und unsagbar repetitiv. Hinzu gesellen sich die üblichen Tricks wie Ausdünnen und starke Geschwindigkeitsschwankungen. Nach unzähligen Takten ein jazziges Break? Ein zweites Schlagwerk? In Gescoms multidimensionalem Universum ist alles möglich. In der zweiten Hälfte wird dann auch noch ordentlich gedubbt. Eine starke Eröffnung.

A2) Stilwechsel! Harsche Old-School-Electrobeats wetteifern mit einer Prä-90er-303-Acid-Baßlinie. Damit hätte wohl niemand gerechnet. Klingt aber noch immer recht ordentlich. Selbstverständlich verzichten die Superstars auch hier nicht darauf, alle Breaks soweit ineinanderzustopfen, daß man manchmal aufspringt, um nachzusehen, ob der CD-Player hängt (was natürlich nicht der Fall ist). Hier wird ein Fenster in die eigene britische Club-Vergangenheit geöffnet. Zugegeben, 303-Acic-Basslines wirken im Jahr 2007 antiquiert, dennoch kann man sich der nostalgischen Wirkung nicht entziehen. Der Rhythmus ist zügig, und im Hintergrund tummeln sich parallel viele Effekte. Mutantendisco für Atom-Zombies.

B1) Nochmals Stilwechsel: Derbe 8-Bit-Electrobeats, wie man sie von den berühmten "Street Sounds"-Compilations der 80er kennt. Synchron atmet dazu eine eiserne Lunge, stampfen Maschinen aus David-Lynch-Alpträumen. Der Track liegt irgendwo in der Mitte zwischen "Confield" und älteren Gescom-Releases. Der Mittelteil ist etwas geradliniger, aus dem Nichts tauchen Stimmen aus dem Radio auf. Dieses für Autechre völlig untypische Stilmittel läßt darauf schließen, daß hier noch zumindest ein zusätzlicher Dancefloor-Mixmaster hinter den Hebeln stand. Eine durchwegs noisige, bizarre, ja fast lustige Mischung.

C1) Britzelnde Elektroden stehen am Beginn dieses anfangs unzugänglichen Tracks. Wieder wird gesliced, was das Zeug hält; darüber liegt eine zarte Melodie wie von einem gestopften Englischhorn. Sehr hypnotisch schleifen die Drumloops ineinander, BPM-Angaben sind schlicht unmöglich. Der erste "richtig" experimentelle Track auf dem Album.

C2) Wieder Stilwechsel: Hochfrequente Kakophonie verschwimmt in einem völlig abstrakten Track, der sich allmählich an vereinzelte Beats klammert. Einmal taucht eine arabische Shakalute auf, dann wieder stampfen die Maschinen. Für ungeübte Ohren ist dieser Track die erste wirklich schwere Hörprobe. Allen Nummern wohnt eine hypomanische Hektik inne, dieser aber besonders. Sie ist auch die kürzeste des Albums.

Dafür ist D1) die längste, und wieder öffnet sich ein Fenster: Diesmal befinden wir uns zu Beginn der 90er Jahre. Eine Vocoder-Stimme plaudert zu Artificial-Intelligence-Tunes. Das Beat-Programming klingt analog und - wie von Autechre gewohnt - ultratrocken und präzise. Mit diesem Track läßt sich jeder halbverschlafene Club schlagartig reanimieren: supercoole Sounds, manische Hektik, repetitive Pattern bis zum Abwinken.

 

Es bedarf vielleicht einiger Übung, sich das Album durchgehend anzuhören - und am besten geht es in völlig nüchternem Zustand. Aufgrund der immanenten Zyklizität der mehrheitlich aus Loops zusammengesetzten Tracks ist von der Einnahme jedweder Barbiturate oder rauchbarer Naturstoffe dringend abzuraten. Wer will schon in einer Endlosschleife hängenbleiben? Beläßt man sein neurophysiologisches Gleichgewicht jedoch unbeeinflußt, darf man sich auf eine Achterbahnfahrt gefaßt machen, die einem garantiert die Haare zu Berge stehen lassen wird. Und wer das nonstop und unbeschadet übersteht, darf sich auch gleich ein Attest ausstellen: sein Nervensystem ist hundertprozentig in Ordnung und belastbar wie eine Drahtseilbahn.

Ernst Meyer

Gescom - A1-D1

ØØØØ

Leserbewertung: (bewerten)

Skam (GB 2007)

Links:

Kommentare_

Musik
The Notwist - The Devil, You + Me

Weilheim revisited

Das Wiedersehen mit Bayerns Besten gerät auf deren sechstem Album zu einer sanften und melancholischen Reise ins Innere.  

Musik
The Orb - The Dream

Japanische Träumereien

Die Ambient-Dub-Veteranen geben ein starkes Lebenszeichen von sich. Ihr vor einem Jahr exklusiv für den japanischen Markt erschienenes Album ist nun weltweit erhältlich.  

Musik
Portishead - Third

Scratch is dead

Das mehr als zehn Jahre erwartete dritte Album des nach einer englischen Hafenstadt benannten Trios bietet alles mögliche - nur nicht das, was sich der ausgehungerte Fan erwartet hat ...  

Musik
Nine Inch Nails - Ghosts I-IV

Die Stunde der Geister

Trent Reznors neues Werk besteht aus 36 Instrumental-Songs, die über das Internet vertrieben werden. Trotz fehlenden Gesangs hört man deutlich, wer da an den Reglern saß.  

Stories
Bauhaus - Geschichte eines Stils

Vampire leben länger

Die Gründerväter des Gothic-Rock präsentieren nach 25 Jahren Pause ihr fünftes Studioalbum "Go Away White". Ernst Meyer begibt sich zu diesem Anlaß auf Zeitreise.
 

Musik
Autechre - Quaristice

Popsongs für Synapsen

Zwischenstation Zugänglichkeit? Der neunte Longplayer der Herren Booth und Brown ist in 20 Sound-Miniaturen gegliedert, die man guten Gewissens Popsongs nennen könnte. Na ja, zumindest fast ...