Musik_Interpol - Our Love To Admire

Heart and Soul

"Today my heart swings": Mit ihrem grandiosen dritten Longplayer zementieren sich die New Yorker an der Spitze aller "neuen" New-Wave-Bands fest - und lassen dabei auch Hoffnung und Humor ins düstere Fundament einfließen.    11.07.2007

Offenbar ist in den letzten Jahren aufgrund der wirtschaftlichen Globalisierung und des damit einhergehenden Werteverlusts ein Nährboden für virulente No-Future-Gefühle entstanden - und als Reaktion darauf bei vielen eine brennende Sehnsucht nach echten Emotionen und bleibenden Werten. Diese Situation ist durchaus mit dem Lebensgefühl der britischen Jugendlichen in den 80er Jahren während der Thatcher-Ära zu vergleichen. Offenbar fördern soziale Kälte und Perspektivlosigkeit stets ein ähnliches Kreativpotential.

So darf es auch niemanden wundern, daß Paul Banks, der Sänger der New Yorker Wave-Band Interpol, immer wieder mit Ian Curtis von Joy Division verglichen wird. Nicht nur der markant maskuline Gesang, sondern auch das Outfit erinnert an die nie vergessenen Heroen der britischen Wave-Historie. Wie Joy Division tragen die Herren aus New York gern weiße Hemden, schwarzen Anzug sowie Kurzhaarschnitt und scheuen auch nicht davor zurück, die brütende Hitze diverser Konzertsäle mit akkurat geknoteter Krawatte zu ertragen. Selbstverständlich werden die Gitarren artig auf Höhe der Gürtellinie gespielt und nicht wie bei den Kollegen von Punk und Metal unterhalb der Kniekehle.

Doch Interpol sind weit, weit mehr als eine Rip-off-Band - bloß die Herangehensweise ist genau dieselbe. Oder andersrum: Wären Interpol 30 Jahre früher geboren, hätten sie bestimmt einen Vertrag auf dem englischen Wave-Label Factory bekommen. Dort tummelten sich weiland eine ganze Menge Bands, die sich an Joy Division orientierten, wie rare Tonträger von Section 25 oder A Certain Ratio eindrucksvoll demonstrieren.

30 Jahre später ist es wieder genauso. Ein riesiges 80er-Jahre-Revival ist in vollem Gange, und in aller Herren Länder sprießen Neo-Wave-Bands aus dem Boden. Das Angebot reicht in England von Maxïmo Park bis zu den Editors und jenseits des Atlantiks eben bis hin zu Interpol. Diese "neue" New Wave, die von skeptischen Kritikern Anfang des dritten Jahrtausends als Anachronismus bewertet wurde, bildet inzwischen ein eigenes Genre.

 

Nach einer fast dreijährigen Schaffenspause liegt nun Interpols dritter Longplayer, "Our Love To Admire", auf dem Plattenteller - und eines gleich vorweg: Es hat sich viel geändert. Zunächst hat das Quartett das Label gewechselt und einen Major-Deal auf Capitol USA ergattert. Interpol sind ihrem Stil zwar treugeblieben, hatten aber erstmals Zutritt zu wirklich erstklassigen Studios. Soll heißen: neue Aufnahmebedingungen, frischer Sound. Mehr noch: opulenterer Sound. Gleich auf dem phantastischen Opener, "Pioneer To The Falls", schmuggelt sich ein Englischhorn unter den gesungenen Refrain - ein guter Trick, erzeugt dieser Kunstgriff doch einen ganz besonderen Spannungsbogen zwischen Banks´ wehmütiger Stimme und den Gitarren. Überdies vermag kein anderes klassisches Holzblasinstrument solch romantisch-traurigen Dunst zu verbreiten.

"No I In Threesome" ist dann ein Schlüssel zu Paul Banks´ Herzleid. Das Gefühl des Ausgestoßenseins, des Nicht-mitmachen-dürfens zieht sich durch seine Texte wie seinerzeit auch durch die noch deutlich depressiveren Lyrics von Ian Curtis. Joy Divisions "Isolation" war ja die Hymne der damaligen New-Wave-Jünger; Interpols "Slow Hands" (aus "Antics" von 2004) ist vielleicht die der heutigen. Als Nachfolge-Hit böte sich auf der neuen Scheibe "The Heinrich Maneuver" an, wäre es dafür nicht eine Spur zu fröhlich. Auch das ist neu an Interpol. Zum ersten Mal schimmert in ihren Kompositionen so etwas wie Hoffnung oder gar Humor durch. Und so kann man Banks´ fast euphorischen Refrain auch wortwörtlich nehmen: "Today my heart swings". Wir swingen mit.

Das ist ja das Großartige an Interpol: Die auf den ersten Anhieb fast naiv wirkenden Hooklines sind in Wahrheit genial durchdacht und gespielt. Kombiniert mit knackigen 4/4-Patterns, die gern auch Anleihen aus dem Twist nehmen (Pogo!), und dem dunklen Timbre von Paul Banks verselbständigen sich die Songs in unserem Hirn und laufen unaufhörlich weiter, lange nachdem die Leerrille erreicht ist. Und natürlich sind es wieder die Lyrics, die uns in ihren Bann ziehen. Sie sind gespickt mit sämtlichen Reizwörtern, die den klassischen, romantischen Wave markieren (Heart, Soul, God, Love, Desire etc.). Paul Banks teilt seine Erfahrungen mit uns. Und so bedeutet Interpol zu hören auch immer ein intimes Erlebnis. Banks erzählt von seinen verflossenen Liebschaften genauso wie von Drogenproblemen ("Rest My Chemistry") oder plötzlichen Erkenntnissen, wie sie einem eben nur die Einsamkeit aufdrängen kann ("The Lighthouse").

Ein Fingerzeig, wohin sich Interpol in den kommenden Jahren entwickeln könnten, steckt im Intro zu "Mammoth". Ob es eine Hommage an Krautrocker wie Neu oder La Düsseldorf oder gleich die Vorwegnahme eines psychedelischen Richtungswechsels in die 60er Jahre ist, möge bitte jeder selbst entscheiden. Nach dem kurzen Aufleuchten der Erinnerung verwandelt sich der Song jedenfalls abrupt in das radikalste Statement, das Interpol je geschrieben haben: "Spare me the suspense". Tatsache ist, daß hier etwas in Bewegung geraten ist, so wie auf dem ganzen Album. Noch nie klangen Interpol so gefestigt und souverän. Zur Zeit gibt es tatsächlich keine englischsprachige Wave-Band, die es auch nur annähernd mit ihnen aufnehmen kann.

Interpol schreiben prototypische Wave-Songs - etwa so, wie dies Section 25 im Jahre 1981 auf ihrem legendären Album "Always Now" getan haben. Das ist auch der Grund dafür, warum sie so erfolgreich sind. An ihnen paßt einfach alles. Das Outfit, die Texte, der Gesang: alles hundertprozentig authentisch und stimmig. Und obendrein auch noch (oder gerade wieder) zeitgemäß. Das soll ihnen einmal jemand nachmachen.

Ernst Meyer

Interpol - Our Love to Admire

ØØØØØ


Capitol/EMI (USA 2007)

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