Musik_PJ Harvey - White Chalk

Die längste halbe Stunde

Polly Jean hat dem exaltierten Leben eines Rockstars endgültig abgeschworen und wagt vorsichtig einen Neustart. Das ist eine gute Idee, die ihre Fans allerdings nicht ganz befriedigen wird.    07.11.2007

PJ Harvey war schon vieles. Im Lauf der Jahre durchlief sie eine stattliche Anzahl verschiedener Entwicklungsstadien, ja mehr noch, verschiedener Persönlichkeiten. So verwandelte sie sich von der neugierigen Landschönheit ("Dry"; 1990) in eine sexistische Suffragette mit gebrochenem Herzen ("Rid Of Me"; 1992), eine reuelose, kindermordende Psychopathin ("To Bring You My Love"; 1995) oder eine identitätssuchende Depressive ("Is This Desire?"; 1998) und gelangte über die kosmopolitische Busineß-Frau ("Stories From The City, Stories From The Sea"; 2000) und die folkige Roadmovie-Nostalgikerin ("Uh Huh Her"; 2004) wieder zurück an ihren Ursprung.

Zumindest darf man das aus dem Cover von "White Chalk" schließen. Da sitzt sie nun ganz alleine, gehüllt in ein makellos weißes Kleid, das an Photographien amerikanischer Bäuerinnen im Sonntagsstaat anno 1850 erinnert. Die Hände sind züchtig im Schoß gefaltet. Der hochgeschlossene Kragen, die vollständig bedeckten Arme sowie die Bodenlänge des Kleides bezeugen, daß die Zeiten der Exzesse (Sex, Drogen etc.) vorbei sind. Weiß ist bekanntlich gleichermaßen die Farbe der Unschuld wie die der Reinheit.

Der erste Eindruck beim Hören deckt sich auch weitgehend mit dieser Vorahnung. Die elf Songs zeugen eher von Katharsis und Askese als von der Bestandsaufnahme eines ausschweifenden Lebens mit unglücklichen Romanzen und einem dauerhaft gebrochenen Herzen. Harveys Gesangsstil hat sich ebenfalls gewandelt. Statt ab und zu die Rockröhre raushängen zu lassen, versucht sie in der etwas sanfteren Liga einer Tori Amos mitzusingen. Das betrifft auch ihre Tonlage, die auf "White Chalk" deutlich höher angelegt ist als auf ihren früheren Alben.

 

Auch die Instrumentierung ist (klassisch) asketisch. Es ist nicht mehr die Gitarre ihres Langzeit-Begleiters John Parish, die im Vordergrund steht. PJ Harvey versucht sich neuerdings als Pianistin, was für Autodidakten ein altbekanntes Risiko darstellt, gehört das Klavier (anders als die gute alte Gitarre) doch zu jenen Instrumenten, die man sich selbst nur bis zu einem gewissen (niedrigen) Grad beibringen kann.

Was natürlich nicht heißen soll, daß "White Chalk" unsauber gespielt wäre. Doch die Harmoniefolgen weisen eine gewisse simple Naivität auf, und die Darbietung derselben bleibt leider etwas ausdruckslos. Harvey ist eben nicht Tori Amos oder Kate Bush - beides Künstlerinnen, die durchaus in der Lage sind, buchstäblich ihre gesamte Seele in die Zwischenräume der weißen und schwarzen Tasten zu legen.

Bedauerlicherweise dauert "White Chalk" nur schlappe 33 Minuten. Selbst im Zeitalter des Vinyls wäre das gerade einmal als überlange EP durchgegangen. Trotzdem erscheint Harveys Album aufgrund ihres bekannten Pathos und der elegischen Lyrics länger, als es in Wahrheit ist. Doch das ist kein beabsichtigter Trick, sondern vielmehr ein Nebeneffekt, der sich beim Hören einstellt.

Natürlich bietet das Kurzalbum dennoch einige magische Momente. "Dear Darkness" gleicht aufgrund der mantra-artigen Gebarung eher einem Gebet als einem Song. Die malignen Textzeilen von "Grow" ("I sowed a rose/Underneath the oak grove/With my boots on the ground/Into the earth I trampled it down") sowie der übersinnliche Refrain sind durchaus geeignet, auch unromantischere Menschen zu erweichen. "When Under Ether" könnte ohne weiteres von dem grandiosen Album "Dance Hall at Louse Point" stammen - ein typischer Moritatengesang des Mittleren Westens. Der Titel-Track wiederum erinnert anfangs an frühe Psychedelia, das Banjo scheucht ihn dann aber doch in die folkige Ecke. Die später einsetzende Mundharmonika zerstört das Stück dann aber vollends. Grausige Donovan-Reminiszenzen haben auf so einem Album nun wirklich nichts verloren.

"White Chalk" ist stilistisch letztendlich ein abwechslungsreiches, jedoch kurzatmiges Album, das unter PJ-Fans so manche Kontroverse auslösen wird. Der künstlerische Anspruch, den Polly Jean darauf stellt, wird von ihr selbst nur teilweise erfüllt.

Ernst Meyer

PJ Harvey - White Chalk

ØØØ

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Island/Universal (USA 2007)

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