Musik_Recoil - Subhuman

Joint Culture

Mit seinem fünften Soloalbum beweist das ehemalige Depeche-Mode-Mitglied Alan Wilder, daß abseits der ausgetretenen Pfade elektronischer Musik noch immer spannende Genre-Crossovers möglich sind.    29.08.2007

Das Marketing-Getrommel vor der Veröffentlichung des neuen Recoil-Werks war immens. Seitenlange Interviews zur Enstehungsgeschichte des Albums wurden da gepostet, Blogger kopierten einfach den Inhalt der Aussendungen - und so entstand der Eindruck, daß sich niemand das Album angehört hatte. Oder es konnte einfach niemand etwas mit den darauf enthaltenen Songs anfangen.

Dabei ist es gar nicht so schwierig, über diese Soundtrack-artige Tapete namens "Subhuman" zu wandern. Wenn man all die sattsam bekannten Hintergrund-Story-Fraktale wegläßt (neues Studio in Texas, den Sänger übers Internet gesucht, politische Statements über die von Politikern unterdrückte menschliche Würde als Motivation etc.), bleibt netto genau das übrig, was das Album ist: eine multidimensionale Collage aus Alan Wilders Frontend-Ambient-Elektronik, solidem Spoken-Word-Blues des Amerikaners Joe Richardson und der ätherischen Engelsstimme von Carla Trevaskis.

Ein schräges Line-up für ein Elektronikalbum, könnte man meinen. Doch Alan Wilders fundamentale Studio- und Instrumentenkenntnisse sind nur der Kitt, der diese einzigartige Platte zusammenhält. Ja, mehr noch, sie bilden den äußerst fruchtbaren Nährboden, der die unterschiedlichen Musikstile zweier Kontinente ineinanderwachsen läßt.

Alan Wilder hat nicht nur eine Schwäche für Samplings und atemberaubende 5.1-Dolby-Surround-Klanggemälde, sondern auch für amerikanischen Gospel/Blues. Das ist freilich eine Kombination, die nicht jedem gefallen wird. Es gibt auch kaum Beispiele für solche Gratwanderungen: "My Life In The Bush Of Ghosts" von Brian Eno und David Byrne gehört dazu, genauso wie das leider in Vergessenheit geratene Meisterwerk "Zazou/Bikaye/Cy 1: Noir et Blanc" (erschienen 1983 auf Crammed).

Alan Wilder hatte die Idee für diesen Crossover eigentlich schon 1992. Auf seinem legendären Werk "Bloodline" findet man nämlich "Electro Blues for Bukka White". Damals mußte sich Wilder noch antiquierter Tapes bedienen; Bukka White war ja auch schon länger unter der Erde. Als Skizze jedoch dürfte sich diese Kombination von Schwarz (Stimme) und Weiß (Elektronik) in seinen Gehirnwindungen festgesetzt haben. Jetzt hat er aus seiner persönlichen Leidenschaft ein überbordendes High-Tech-Hörerlebnis für Audiophile komponiert.

 

Gleich der Opener "Prey" jagt gehörige Schauer über den Rücken. Aus dem anfänglichen Industriegedröhne hebt sich langsam ein Violinton Barry Adamsonschen Zuschnitts ("Moss Side Story"!), bevor uns die dunkle Stimme Richardsons eine Geschichte über Mambo-Queens und Südstaaten-Segregation erzählt. Rund um diese Moritat schlingert der Song, wechseln Rhythmen und Stimmungen, jammern gefilterte und gequälte Gitarren - schwingt hier jemand die Peitsche?

Natürlich bietet sich der amerikanische Blues wie kein zweiter Musikstil an, um Stories über "Subhumans" zu erzählen. Wilders Album ist ein eindringliches Plädoyer für mehr Menschlichkeit und das Aufbegehren gegen Unterdrückung jeglicher Art. Ob als Lohnsklave in den Industrienationen oder Kinderarbeiter in Bangladesch - wir alle sind viel mehr wert als Maschinen, als die wir mißbraucht werden. Wenn da nicht auch die Herzen alternder Hippies schneller schlagen ...

Der zweite Track "Allelujah" erinnert mit seinen traumhaft wandelnden Harmonien und dem dünnwandigen Gesang von Carla Trevaskis nicht ganz zufällig an Portishead oder auch Massive Attack. Immerhin eine schwergewichtige Klasse, in die sich Wilder da vorwagt. Allerdings hat er musikalisch mehr drauf als beide dieser Bands zusammen. Er kann es sich also leisten, ein wenig zu klotzen. Die Arrangements sind durch die Bank großartig, das Sound-Design vom Feinsten. Und als ob das noch nicht reichen würde, gibt es das Album auch als Enhanced-Surround-CD und DVD.

Die Stücke dauern ewig und verwandeln sich fortwährend. Mit der Zeit versinkt man darin. Die rostigen Blues-Gitarren, die samtigen Streicher, der pastorale Anstrich der Kompositionen sorgen schon bald dafür, daß wir den Staub der Straße schmecken, das klirrende Brennen der Sonne spüren. Sehr schön.

Das rockige "99 to Life" fällt etwas aus dem beschaulich-meditativen Rahmen, aber "Backslider" bringt uns wieder zurück zum Anfang. Die Synthese ist vollbracht. Mit tatkräftiger Unterstützung seiner Musiker schafft Wilder die Quadratur des Kreises und mischt Blues und Elektronik mit einer Kunstfertigkeit, die ihresgleichen sucht.

Man braucht bestimmt Zeit, um durch die düsteren Intros zu den lichten Höhen emporzusteigen (kein Stück dauert weniger als sechs Minuten). Dafür ist aber außergewöhnliches Hörvergnügen garantiert.

Ernst Meyer

Recoil - Subhuman

ØØØØ 1/2


Mute/EMI (GB 2007)

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