Musik_The Black Dog – Book of Dogma

Die Evolution des schwarzen Hundes

Aufgrund der immensen Nachfrage wiederveröffentlicht Soma Records die bisherigen Releases des Elektronikprojekts als Doppel-CD neu - und liefert damit die bislang wichtigste Dokumentation über die Genesis von IDM.    02.05.2007

Schwarze Hunde sind in der englischen Mythologie der Inbegriff des Unheimlichen und auch des Unbewußten. Spuren der durch Sussex- oder Yorkshire-Moore streunenden Biester findet man in der britischen Literatur häufig. Die Palette reicht von Sir Arthur Conan Doyle ("The Hound of Baskerville") bis hin zu Ian McEwan ("Schwarze Hunde"). In McEwans Roman stellt die traumatische Begegnung eines Ehepaars mit diesen Tieren den unheilvollen Beginn eines weniger sanften neuen Lebensabschnitts dar.

Das paßt auch für die Anfangsphase des genialen Electronikprojekts The Black Dog. Das Trio Ken Downey/Ed Handley/Andy Turner spürte Ende der 80er rechtzeitig den Paradigmenwechsel, der sich in der elektronischen Musikwelt vollzog. EBM war schon lange out, Acid bereits am Ende, und am Horizont zogen die Vorboten der alles gleichschaltenden Dekade des Techno herauf. Inspiriert vom damals gerade angesagten New York House, wiewohl abgeschreckt vom Detroit-Techno, der noch in den Kinderschuhen steckte, begannen die drei Freunde, einen eigenen Stil - zusammengesetzt aus vielen verschiedenen Schattierungen, die auf den Dancefloors der damaligen Zeit zu finden waren - zu destillieren.

Die nun vorliegende Doppel-CD eignet sich somit hervorragend zur Ahnenforschung. Auf CD 1 wurden die ersten drei 12-Inch-Singles des schwarzen Hundes kompiliert. Sie erschienen in den Jahren 1989 bis 1992 auf ihrem eigenen legendären Label Black Dog Productions. Da die Stückzahlen extrem limitiert waren und die Platten von Hand in London und Umgebung verteilt wurden (sic!), findet man sie auf dem Kontinent so gut wie nie und muß auch in England inzwischen viel Geld bieten, um in den Besitz einer dieser vermutlich stark ramponierten Raritäten zu gelangen.

Die Fans auf der ganzen Welt werden Soma Records die Wiederveröffentlichung also danken - besonders auch deshalb, weil die antiken Tracks samt und sonders remastered wurden. Im Detail stellt sich CD 1 wie folgt dar: Die Tracks 1 bis 3 befanden sich ursprünglich auf der "Virtual"-12-Inch (BPD 1989), Tracks 4 bis 6 auf "The Age of Slack" (BPD 1989) und schließlich die Tracks 7 bis 12 auf "Techno Playtime" (BPD 1990).

 

Die erste CD beginnt mit einem der bekanntesten Black-Dogs-Stücke: "Virtual" erschien auf unzähligen Compilations, zuletzt auf Carl Craigs "Kings of Techno"-Mix. Das zweite Stück "The Weight" enthält bereits alle Ingredienzen, die auch Aphex Twin berühmt machten. Die pulsierenden Beats, gekoppelt mit Ambient-Drones, erinnern nicht zufällig an "Pulsewidth" von Richard D. James ("Selected Ambient Works"), das etwa zur selben Zeit entstand. Those were the days ...

Die Rap-Samples und Big-Beat-Pattern von "Ambience with Teeth" (Nomen est omen) weisen freilich in eine andere Richtung, nämlich die von 808 State oder Shamen (kennt die noch wer?) - kein schlechtes Portfolio. Weiter geht´s mit "The Age of Slack", das gleich einmal mit links den UK Drum´n´Bass samt Garage vorwegnimmt. Doch halt: "Tactile" fällt etwas aus dem Rahmen, da das perfekte Drumprogramming afrikanischer Polyrhythmik, der hermetisch geschlossene Harmoniebogen und die sich Mäander für Mäander darum herumwickelnden Kürzel einen ganz frühen Plaid-Song darstellen, und zwar in Reinform: ein ungeschliffener Kristall. (Plaid wurde bekanntlich später das Nachfolgeprojekt von The Black Dog.)

Die Spurensuche wird immer spannender. "Techno Playtime" weist bereits jene Elemente auf, die später auf den einflußreichen "AI"-Compilations von Warp Records zu finden waren: Ambient-Sound-Teppiche, schnelle Beats, zappelnde Snares, High-Hat-Triolen, pentatonische Melodien. So gut wie nie klingen sie nach "Four to the Floor"; die Briten wollten ja ganz bewußt einen Gegenpol zu dem damals aus Detroit importierten sterilen Industrial-Techno (zum Beispiel von Jeff Mills) bieten.

Das ist ja überhaupt das Beste an "Book of Dogma": Zum ersten Mal wird es auch jüngeren Elektronikfreunden möglich, dem Anfang von IDM zu lauschen, den Paradigmenwechsel nachzuvollziehen und zu erkennen, mit wieviel Hingabe und Kreativität die Briten ihren eigenen Stil fanden, der schließlich die gesamte elektronische Musik beeinflussen sollte - und zwar nachhaltiger, als es Techno jemals konnte. Dank Musikern wie The Black Dog, Richard D. James und Beaumont Hannant wurde "Electronic Listening Music" zu einer Marke, die man auch heute noch mit Großbritannien assoziiert. Darüber legt das "Book of Dogma" eindrucksvoll Zeugnis ab.

Düsterer als CD 1 und nicht minder spannend ist CD 2. Doch Obacht! Wem hier auf Anhieb einiges bekannt vorkommt, der irrt nicht: Die zweite Scheibe ist in Wahrheit Black Dogs vielbeachtete "Parallel"-LP (General Production Recordings, 1995). Dies war das erste Langspielalbum, das der schwarze Hund für GPR aufnahm. Was sofort auffällt, ist der deutlich modernere Sound der Stücke. Die 8-bit-Sampler wurden langsam ausgemustert, und auch das Mastering wurde signifikant besser. Das bewirkt, daß die meisten Tracks auch heute noch, nach mehr als zehn Jahren, in jede aktuelle DJ-Playlist passen.

Manche Stücke wie "Glassolalia" könnten überdies aus dem Fundus von Boards of Canada stammen, und die Alltime-Favorites "Aural Wallpaper" und "Vanttool" erinnern mit ihrem milden Detroit-House-Flavour mitunter an Kenny Larkin und andere große Namen der damaligen Zeit. Doch The Black Dog brillierten nicht nur auf dem Dancefloor; ihrer melodiösen Experimentierfreudigkeit sind auch schwerer verdauliche Stücke zu verdanken, etwa "Erb" und "Squelch". Auch "Dog Solitude" von CD 1 gehört zu diesen "atonalen" Exkursionen.

 

Fazit: Hört man sich "The Book of Dogma" komplett an, erschließen sich nach und nach sämtliche Roots, aus denen der progressive IDM der frühen 90er Jahre in England wuchs. The Black Dog waren und bleiben eine der innovativsten Kräfte dieses Genres, die Legionen von Elektronikmusikern beeinflußten. Was an manchen Tracks vielleicht noch etwas "roh" wirkt, perfektionierten sie später dann als Plaid. Und es gibt bis heute kaum jemanden, der so "menschlich" anmutende Shuffle-Patterns mit einem ordentlichen Schuß Lo-Fi programmieren kann.

Nicht nur reiferen Semestern auf der Suche nach dem ultimativen Timewarp, sondern auch allen, die die pulsierende Elektronikszene damals verpaßt haben, sei "The Book of Dogma" daher wärmstens empfohlen. Soma sei Dank!

Ernst Meyer

The Black Dog – Book of Dogma

ØØØØ 1/2


Soma Records (GB 2007)

Links:

Kommentare_

Musik
The Notwist - The Devil, You + Me

Weilheim revisited

Das Wiedersehen mit Bayerns Besten gerät auf deren sechstem Album zu einer sanften und melancholischen Reise ins Innere.  

Musik
The Orb - The Dream

Japanische Träumereien

Die Ambient-Dub-Veteranen geben ein starkes Lebenszeichen von sich. Ihr vor einem Jahr exklusiv für den japanischen Markt erschienenes Album ist nun weltweit erhältlich.  

Musik
Portishead - Third

Scratch is dead

Das mehr als zehn Jahre erwartete dritte Album des nach einer englischen Hafenstadt benannten Trios bietet alles mögliche - nur nicht das, was sich der ausgehungerte Fan erwartet hat ...  

Musik
Nine Inch Nails - Ghosts I-IV

Die Stunde der Geister

Trent Reznors neues Werk besteht aus 36 Instrumental-Songs, die über das Internet vertrieben werden. Trotz fehlenden Gesangs hört man deutlich, wer da an den Reglern saß.  

Stories
Bauhaus - Geschichte eines Stils

Vampire leben länger

Die Gründerväter des Gothic-Rock präsentieren nach 25 Jahren Pause ihr fünftes Studioalbum "Go Away White". Ernst Meyer begibt sich zu diesem Anlaß auf Zeitreise.
 

Musik
Autechre - Quaristice

Popsongs für Synapsen

Zwischenstation Zugänglichkeit? Der neunte Longplayer der Herren Booth und Brown ist in 20 Sound-Miniaturen gegliedert, die man guten Gewissens Popsongs nennen könnte. Na ja, zumindest fast ...