Musik_The Human League - Reproduction

Zurück in die Zukunft

Virgin Records gibt dem Druck unzähliger Fans nach und schickt ein legendäres Endsiebziger-Album mitten ins endlose Eighties-Revival hinaus. Irgendwie unfair.    25.11.2003

"Reproduction" war und ist ein Meilenstein, der aussagekräftig die filigrane Geburtsstunde elektronischer Popmusik dokumentiert. Heute denken Mainstream-geschädigte Radiohörer bei Human League bestenfalls an Etiketten wie Synthpop, New Romantics oder "alter Popper-Sound". Doch die Original-League von 1979, ein knäbisches Trio (damals reichten drei Jungs für eine Boyband), ist weniger geläufig. Und seit ihr gelang es niemandem mehr, SF-Stories aus vergilbten Taschenbüchern in derart prickelnd-unheimliche Texte zu verpacken.

Phil Oakeys melodramatischer Gesang erfüllt auf dem Debüt den Synthpop-Sternenhimmel mit seinem klaren, stets klagenden Timbre. Englands soziale und emotionale Isolation wird im Verlauf des Albums deutlich spürbar: Das endgültige Aus für die letzten Kohlengruben trieb das halbe Empire in die Armut, die Regierung Thatcher wurde mit jedem Tag verhaßter, die Einsparer begannen ihre widerliche Herrschaft.

Human League brachten als Reaktion darauf stimmig-sterile Reizwortlyrik zum Einsatz: "crowd", "tarmac", "escalator", "TV", technische Ausdrücke und immer wieder "human", als Weckruf für eine in stupide Technokratie absinkende Kapitalwelt. Immerhin erschien "Reproduction" zu einer Zeit, als "Schöne neue Welt" noch auf den Leselisten der Maturanten stand, Farbfernsehgeräte keineswegs alltäglich waren und Popmusik nicht nur zum Geldverdienen gemacht, sondern sogar versucht wurde, politische Inhalte in die netten Songs zu schmuggeln (siehe auch: Depeche Mode - "Construction Time Again" oder Fad Gadget - "Under the Flag").

Der unvergeßliche Opener "Almost Medieval" oder die Nummer "The World Before Last" spielen in einer nahen Zukunft, einem utopischen Überwachungsstaat; "Blind Youth" borgt sich gleich keck das "No Future" von Johnny Rotten. Es ist heute kaum vorstellbar, aber Human League spielten einst als Vorgruppe von Siouxsie and the Banshees...

Schnitt: "Empire State Human" stöbert nicht nur in Antonin Artauds Gehirn ("Ich bin 12 Meter groß, und alles ist unvorstellbar!"), sondern weist den Weg in eine musikalische Zukunft namens Techno. Das Lied "Morale" beamt uns wieder auf den einsamen Eisplaneten Oakey, der sich hier in einem Akt moderner Selbstzerfleischung glaubhaft bis zum Breakdown steigert, nur um nach einem grandiosen Übergang zu "You´ve Lost That Loving Feeling" bei "Austerity/Girl One" wieder auf den Zug der Zeit aufzuspringen. Und erst jetzt entfaltet sich dieser typisch-hymnenhafte Human-League-Stil, dieses Allein-gegen-die-Welt-Geheul, und wir lieben diesen Weltschmerz. Man kann fühlen, wie die Beschleunigung gegen Ende des Albums zunimmt; manche Passagen verfolgen einen bis in den Schlaf...

Doch die drei Freunde Phil Oakey, Martyn Ware und Ian Craig Marsh spielten abseits ihrer Pop-Konstruktionen auch andere "futuristic sounds" ein: Auf der remasterten Wiederveröffentlichung finden sich etwa Tracks wie das total kranke "Introducing", ein Experimentalstück, das auf einem Uralt-Demotape aufgetaucht war. Ursprünglich hieß es "Overkill Desaster Crash" und ist ein industrieller Mix aus Sirenen, Glocken, Explosionen und einem düsterem Drei-Noten-Baß-Riff. Auch die "verlorene" Instrumental-12-Inch "The Dignity of Labour 1-4" befindet sich auf der Silberscheibe - ein echter Mehrwert. Dazu kommen die Plauder-Flexi-Disc (sehr lustig) und zwei weitere Demoversionen von "Being Boiled" und "Circus of Death", hier irreführend "fast"-version genannt.

"Reproduction" ist ein beeindruckendes Zeitdokument. Schade nur, daß das Booklet enttäuschend spartanisch ist. Langsam sollte sich doch selbst bis zum taubsten Brand-Manager herumgesprochen haben, was Fans lieben: alte S/W-Photos, Live-Shots, Interview-Ausrisse aus Magazinen etc. pp. - kurz gesagt: alles, was Authentizität unterstreicht und dazu beiträgt, daß diese Pop-Perlen über Generationen hinweg erhalten und geschätzt werden.

 

Ernst Meyer

The Human League – Reproduction (Remastered)

ØØØØ 1/2


Virgin (D 2003)

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