Musik_rechenzentrum - Director´s Cut

Die Mind-Machines des Kollektivs

Das mit Spannung erwartete und mit einer goldenen Ars-Electronica-Nica ausgezeichnete dritte Album des Berliner Trios vereint, was nie hätte getrennt werden dürfen: Klang und Bild.    07.11.2003

"Director´s Cut " gelangt als Doppelscheibe, nämlich Audio-CD plus DVD, in die Verkaufsregale. Keine schlechte Idee, aber auch nicht ganz neu. Auf den Geistesblitz mit den Gimmicks kamen ältere Semester schon weiland, in den guten alten Eighties. Ein Beispiel: Die letzte Nummer auf Pete Shelleys "XL-1" (1982) ist sicherlich jedem in Erinnerung geblieben; die grauenhaft schrillen Schnarr- und Zirp-Zerhack-Geräusche waren aber in Wahrheit ein "Tape Memory"-Programm-File für den ZX 81 Spectrum von Sinclair (eine Art Dino-PC). Man konnte solche Software-Cassetten damals in eine ZX-81-Konsole einspeisen, und wie von Geisterhand gezaubert, begannen die Lyrics des Albums auf grüngelben Monitoren zu leuchten...

Mark Weiser (Musik/Komposition), Lillevän (Videokunst) und Christian Conrad (Sound-Design) bilden das Kollektiv rechenzentrum. Ihre multimedialen Installationen wirken nicht zufällig wie Mind-Machines - ja, genau: die totale, weil gleichzeitige Stimulation von Aug und Ohr. Ein fast vergessener Ausdruck, etwas, wovon man in den 80ern bestenfalls träumen durfte, war doch die damalige Technologie für die angestrebten Ziele (Bewußtseinsveränderung durch angewandte audiovisuelle Elektronik) unzureichend. Zumindest ein paar Namen seien aber erwähnt: Der Weg der musikalischen Mind-Machines führte von SPK über Adi Newton/Clock DVA (zum Beispiel: "Delta Waves") bis hin zu den "Digital Lifeforms" der frühen neunziger Jahre. Wenn man´s genau nimmt, könnte man aber auch "Fantasia" von Walt Disney an den Anfang stellen, oder violette Lavalampen, weil über Geschmack läßt sich bekanntlich ... aber lassen wir das.

Vorbei sind nun jedoch die Zeiten nervender Asynchronizität, als man per Hand 8-mm- oder Idophor-Projektoren möglichst gleichzeitig wie das Playback-Tape einschalten mußte. Da ja heute alles am Rechner gemischt wird, Ton wie Bild, paßt selbst das glitschigste Frame zum foulsten Break. Der Opener "Gaujac Totale" schärft das Gehör des geneigten Konsumenten bis an dessen Grenze, unendliche Hallräume strahlen stählern in hermetischer Einsamkeit. Doch weiter hinten auf der CD beginnt das Tanzbein bei manch housigem Microclick zu zucken. Es darf also auch getanzt werden. In direkter Nachbarschaft von Pole, Frank Brettschneider oder Alva Noto fühlen sich rechenzentrum pudelwohl. Wer die Veröffentlichungen des Trios über die letzten fünf Jahre verfolgt hat, wird feststellen, daß "Director´s Cut" bei aller Genialität bloß einen weiteren Höhepunkt einer taxativen Listung von Höhepunkten darstellt. Neugieriggewordene mögen bitte auch einen Blick auf das reichhaltige Backorder-Programm werfen, da sind viele Entdeckungen garantiert. Besondere Empfehlung!

 

Ernst Meyer

rechenzentrum - Director´s Cut

ØØØØØ


Force Inc/Mille Plateaux/Ixthuluh (D 2003)

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