Print_Anna Politkovskaya - Tschetschenien
Das Grauen hat einen Namen
Die Lektüre dieses Buches kann beim allerbesten Willen niemandem empfohlen werden. Es ist sogar fraglich, ob man hier überhaupt von einem Buch sprechen kann...
16.04.2004
Monolithisch mattschwarz umschlungen von einer dunkelroten Banderole, wirkt der Umschlag des Sachbuchs "Tschetschenien: Die Wahrheit über den Krieg" geradezu dogmatisch; auf die Farbe Weiß wurde bei der typographischen Gestaltung völlig verzichtet. Schon hier wollte sich der Verlag deutlich von den inzwischen inflationären Publikationen zum Thema "Drittes Reich" abgrenzen. Wir befinden uns schließlich in der Gegenwart, wiederhole: Gegenwart.
Die Schreibe jedoch ist diese uns allen nur allzugut bekannte neo-coole Journalismus-Prosa. Anna Politkovskaya schildert deskriptiv, in bewußt passivem Zerhacker-Deutsch. Besonders dramatische Sequenzen werden von ihr gerne in zweiter Person dargestellt ("Du liegst im Schützengraben..."). Damit diese Mixtur auch richtig lebendig wird und atmet, läßt die Autorin immer wieder die Betroffenen selbst zu Wort kommen, zitiert ihre Gedichte, betet ihre Gebete. Unermüdlich trägt Politkovskaya den Schrei der Tschetschenen in die Zeitungsredaktionen der russischen Metropolen, wo sie jedoch selbst immer weniger Gehör findet.
Chronologisch werden Textsplitter aneinandergereiht, gelegentlich unterbrechen grobkörnige Schwarzweiß-Prints, Lyrikfragmente sowie Tagebucheinträge das Trommelfeuer Genfer Konventionen verhöhnender Kampfmaßnahmen. Es handelt sich, wie gesagt, weder um ein Buch im konventionellen Sinne noch um eine Reportage im klassischen.
Die staatlich dirigierte systematische Ausbeutung, Zersiedlung sowie Ermordung der tschetschenischen Bevölkerung ist längst grauer Alltag geworden. Unter dem Deckmantel des globalen Kampfes gegen den (islamischen) Terrorismus schauen die chronisch gelangweilten Kameraaugen der westlichen News-TV-Anstalten überall hin, bloß nicht nach Tschetschenien. Es paßt ihnen halt nicht ins Konzept.
Und was die besondere "Behandlung" von Dissidenten oder Andersdenkenden angeht, waren die Russen bekanntermaßen nie zimperlich. Die 1998 nach den Aufzeichnungen Ole Sohns* entstandene Dokumentation "Die Höchststrafe: Leben im Gulag" ist bloß eine Träne im Ozean: Mütterchen Rußlands Zeitgeschichte ist bis zum Bersten vollgestopft mit (bestens dokumentierten) Greueltaten gegen die eigenen Bauern, Arbeiter, Bürger und letzten Endes: Brüder.
In Tschetschenien klaffen die Pforten der Hölle weit auf. Den Letzten noch Lebenden ist nur mehr ihr Glaube geblieben. Und jener ist auch noch der "falsche" - jener, wegen dem die Männer erschossen, die Frauen vergewaltigt und die Kinder versklavt wurden respektive werden, Jahr für Jahr.
Die Tschetschenen sind der rasenden Willkür der Soldateska völlig hilflos ausgeliefert. Ob staatliche Divisionen, föderalistische Truppen oder herumstreunende Marodeure, sie können die "Unformierten" schon lange nicht mehr voneinander unterscheiden. Wie auch? Der in der westlichen Hemisphäre als langanhaltende "Krise" wahrgenommene Konflikt ist in Wahrheit ein gut durchgeplanter Drei-Etappen-Krieg und dauert in Summe seit über zehn Jahren ohne nennenswerte Unterbrechungen an. Nach so langer Zeit werden selbst wachsamste Augen müde.
Nach der Veröffentlichung dieses Nicht-Buches muß jeder halbwegs seriöse Kriegsberichterstatter anstandslos akzeptieren, daß der "Krieg" in Tschetschenien eine neue Kategorie des Verbrechens gegen die Menschheit darstellt. Jedesmal, wenn sich der Magen spontan zur Faust ballt, man das Buch zum wiederholten Male zornig zuschlägt und sich bitterlich wünscht, der Wahnsinn möge aufhören, fängt die Beunruhigung erst an. Die Bilder brennen weiter, die Ungerechtigkeiten schreien zum Himmel. Die Massenvernichtung der Tschetschenen passiert, ob wir das Buch lesen oder nicht...
Ernst Meyer
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