Print_Print-Tips Spezial: Auster/Friedman

Was Männer bewegt

Wer im Rollstuhl sitzt, kann keine großen Sprünge machen. Daß zwei amerikanische Autoren es trotzdem schaffen, ihre immobilen Protagonisten durch packende Geschichten zu schleusen, ist nicht nur dem alten Hitchcock zu verdanken - sondern auch den bewährten Hausmitteln Alkohol, Zigarren und Phantasie.    21.11.2008

Stellen Sie sich vor, Sie sind ein Mann - ein richtiger Mann. Sie sind alleine, sitzen zu Hause, trinken Alkohol und spinnen elementar-gedankenvoll vor sich hin. Übers Leben, die Welt und wie alles sein könnte, wenn nicht ... Nein, ersparen Sie uns bitte die Ergebnisse Ihrer Einsamkeitsphantasien. Wir erzählen Ihnen ja auch nichts von unseren traurigen Abenden und elegischen Nächten.

Sollten Sie aber zufällig Paul Auster oder Kinky Friedman heißen, dann hören wir Ihnen gern zu.

Emmerich Thürmer

Paul Auster - Mann Im Dunkel

ØØØØ

("Man in the Dark", Rowohlt; Photo © Alexandra Klever)

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Der 72jährige August Brill, ehemaliger Literaturkritiker und angesehener Journalist, sitzt morgens um drei schlaflos in seinem Rollstuhl im dunklen Wohnzimmer und wartet auf den Sonnenaufgang. Seit dem Krebstod seiner Frau und einem Autounfall, der ihn beinahe komplett bewegungsunfähig gemacht hat, sieht sich der desillusionierte Protagonist zwischen Wachen und Alptraumdelirien gefangen, wie sie aus der Feder des amerikanischen Erfolgsautors Paul Auster nicht unüblich sind.

Um sich abzulenken, erfindet Brill eine Person, die zunehmend von seiner eigenen Realität Besitz ergreift - einen gewissen Owen Brick, der in einem tiefen Erdloch erwacht. Wie er dort hineingekommen ist, weiß er nicht. Zufällig hat er noch seine Brieftasche bei sich, die Rückschlüsse auf eine Identität als Illusionist aus Queens zuläßt. Bei Tagesanbruch schließlich brechen endgültig alle Dämme zwischen Fiktion und Realität: Owen kriecht ans Licht und sieht sich inmitten des zweiten (!) amerikanischen Bürgerkriegs, der seit 2001 tobt, als sich nach einem offensichtlichen Wahlbetrug einige Staaten aus der Union verabschiedet haben. Und Brick hat eine Mission. Nur er nämlich kann diese Katastrophe beenden, indem er jenen Mann exekutiert, der dafür verantwortlich ist. Und der heißt Brill und sitzt, die Chronik dieses Bürgerkriegs niederschreibend, in seinem Elfenbein-Twin-Tower schlaflos im Dunkel!

In einem ähnlichen Zustand liest sich der Leser durch eine tiefschwarze Geschichte, in der einige der Grundthemen Austers - Unsicherheit, Identitätsfindung/-verlust und die Möglichkeit paralleler Leben(sentwürfe) - zutage (oder besser: in die Finsternis) treten. Mit "Mann im Dunkel" gelang Paul Auster eine weitere seiner stimmigen Parabeln, die sich mit dem auseinandersetzen, was wir gemeinhin "unser Leben" nennen.

Nach diesem Buch ist man dann ernsthaft versucht zu fragen: "Welches denn?"

Links:

Kinky Friedman - Der Gefangene der Vandam Street

ØØØØ 1/2

("The Prisoner of Vandam Street", Haffmanns bei Zweitausendeins)

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Déjà–vu? Der 64jährige Exiltexaner und gelegentliche Wahl-New-Yorker Kinky Friedman, gescheiterter jüdischer Country-Sänger und unorthodoxer Privatdetektiv, darbt in seinem zugigen Loft als Teilzeit-Rollstuhlpatient vor dem Küchenfenster vor sich hin, nachdem ihn die Malaria (die er sich im Dschungel des Village zugezogen hat) niedergestreckt hat. Und dann passiert es: Alfred Hitchcock kommt auf einen Drink vorbei, den Kinky aus alter Gewohnheit in einem Stiertrinkhorn präsentiert. Nein, stimmt natürlich nicht, alles nur Fieberdelirium ... Es tauchen vielmehr die "üblichen Verdächtigen" auf, die "Village Irregulars" McGovern, Brennan und Dr. Ratso Watson, um dem Kinkster beizustehen. Aber eigentlich gibt es sowieso nur zwei echte Freunde: die Katze und den stummen Puppenkopf. Und keiner glaubt dem kranken Kinkster, als er vom Mord an einer schönen jungen Frau berichtet, den er durch das Fenster in der gegenüberliegenden Wohnung gesehen zu haben vermeint. Leider gibt es nämlich weder eine Leiche noch eine Wohnung gegenüber.

Friedman-Leser wissen, daß die Kinkster-Romane im Grunde Parodien auf das Genre der Asphalt-Dschungel-Krimis sind. Die Ermittlungen kommen schon immer irgendwie ans Ziel, aber wirklich spannend ist das Drumherum, das einem vielgemusterten Teppich aus jüdischem Wortwahnwitz und Hardboiled-Slang gleicht und von einem roten, mit einer amoklaufenden Nadel gestrickten Handlungsfaden zusammengehalten wird. Kinky Friedman spielt fast exhibitionistisch-obszön mit der literarischen Form der Ich-Erzählung, denn sein "Ich" ist er selbst - und doch wieder nicht! Genau für diese Schlitzohrigkeit lieben die Country-Pulp-Fictionalisten, zu denen auch Expräsident Bill Clinton gehört, ihren Helden, der jederzeit auf die dringlichen Fragen des Lebens Antworten bereit hält - zum Beispiel auf die, was ein Mann zu tun hat, wenn die Zigarre kalt, der Whiskey zu warm und der nächste Fick zu weit ist ...

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