Fortsetzung...

EVOLVER: Das sehen aber viele Verlage und Autoren ganz anders!
Gibson: Autoren müssen sich, zumindest zur Zeit, darüber noch keine großen Gedanken machen. Weil Text sich, das ist seit dem 16. Jahrhundert so, am besten in ein Buch verpacken läßt. Das ist die Natur des Mediums. Also ist die einfachste Form, an etwas Lesbares zu kommen, ein aus Holz und Tinte produziertes Buch in einem Buchladen zu kaufen. Den Text aus einem Buch zu kopieren ist einfach, aber wenn du das ganze Buch nachmachst, dann hast du ein ganzes Buch, ein Medium, geklaut. Das ist schon etwas anderes - das ist eine Raubkopie, und die stehen schon seit dem 19. Jahrhundert unter Strafe. Wenn es jemandem wirklich nur darum geht, einen Text zu lesen, dann kann er ihn auch umsonst kriegen. Das finde ich auch OK, das kümmert mich nicht.

EVOLVER: Und Sie hätten nichts dagegen, wenn Ihre Texte im Web herumgeistern würden?
Gibson: Wenn ich entdeckte, daß es eine unautorisierte chinesische Übersetzung eines meiner Werke gäbe, die in China in Buchform verkauft wird, würde ich sofort dagegen vorgehen. Gäbe es die gleiche Übersetzung im Web, würde ich nichts dagegen unternehmen, sondern denken: Hey, das ist cool, das ist eine feine Sache.

EVOLVER: Aber Sie denken nicht über "Publishing on demand" oder darüber nach, Ihre Geschichten erst im Web und anschließend als Buch zu publizieren?
Gibson: Ein klein wenig. Nun, ich wäre sofort dabei, wenn ich da wirklich einen Markt sähe. Verglichen mit den alten, den herkömmlichen Bedingungen des Verlegens sind das natürlich alles höchst experimentelle Dinge, die da gerade passieren. Ich weiß, die Verleger beobachten diese Märkte, das Web, print on demand, das E-Book usw. mit Argusaugen.

EVOLVER: Gab es von "Idoru" nicht auch eine Version für das E-Book, dieses eher unbeliebte Lesegerät?
Gibson: Ja, deshalb haben die mir auch so ein E-Book geschenkt. Ich nahm es mit nach Hause, wußte aber nicht genau, was ich damit anstellen sollte - also schenkte ich es meiner Tochter. Sie sagte: "Hey, cool, danke!" Und wissen Sie, was sie damit gemacht hat? Sie verwendete es als Türstopper, weil es "so schön schwer und klein ist".

EVOLVER: Aber das E-Book muß sich doch sinnvoller einsetzen lassen?
Gibson: Klar, wenn man in einer Raumstation oder in einer Forschungsstation in der Antarktis leben würde, wär´s ideal. Einfach in den Computer stecken und soviel auf das Lesegerät herunterladen, wie man lesen möchte. Ich denke, die Richtung, in die es sich entwickelt, stimmt schon. Wir können ja nicht ewig damit weitermachen, Bäume zu fällen, nur um daraus Bücher zu machen.

EVOLVER: Wie könnte die Zukunft des Buches denn aussehen?
Gibson: Also, wenn es nach mir ginge, hätte dann jeder nur noch ein einziges Buch - ein sehr schönes, praktisches Buch, das sich anfühlt und riecht wie ein richtiges Buch. Und das könnte jeden beliebigen Text enthalten, für den Sie die Nutzungsgebühr bezahlt haben. Sie kriegen das Buch, und es ist etwas von Borges oder Mark Twain drin, ganz wie Sie wollen. Es wird so eine Art digitales, nanotechnologisches Gerät sein, und wenn Sie es öffnen, wird es den gewünschten Text enthalten. Jedenfalls müßte es den gewohnten haptischen Aspekt eines Buches haben. Das wäre eine gute Richtung. Das ist noch nicht einmal Science Fiction, im Gegenteil: Ich habe vor einiger Zeit dieses Plastikpapier gesehen, das beliebig oft programmiert werden und auf dem man Zeitung lesen kann.

EVOLVER: Sie meinen die digitale Tinte, die am MIT MediaLab entwickelt wurde?
Gibson: Ja, ich glaube, damit machen sie das. Sie nehmen dieses Plastikpapier, stecken es an ihren Computer an und laden sich herunter, was Sie möchten. Und es läßt sich jederzeit wieder verändern.

EVOLVER: Zurück zu Ihren realen Büchern - viele Ihrer Figuren haben kleine Defekte. Rydell ist ein gescheiterter Polizist, der nicht einmal seinen Job als Wachmann hinkriegt. Chevette kommt weder mit Männern noch ihrem Leben, geschweige denn mit der Liebe zurecht. Laney hat aufgrund der medizinischen Drogenexperimente in seiner Kindheit dieses Wahrnehmungs-Syndrom, durch das er digitale Daten in Geschichten und Bilder übersetzen kann. Sie alle existieren ständig auf Messers Schneide. Worum geht es Ihnen dabei?
Gibson: Ich glaube, ich weiß, was Sie meinen. Es gibt da eine Tradition in der amerikanischen Literatur - die Suche nach dem sogenannten idiosynkratischen Erzähler. Und es ist ganz üblich, in der US-Literatur des 20. Jahrhunderts, einen Erzähler zu finden, der ganz grundlegend anders ist. Ich bin nicht der erste Autor, der mit solchen Figuren arbeitet. Gerade in der Science Fiction ist es sehr nützlich, Charaktere zu benützen, die irgendwie anecken. Sie passen nicht so exakt in die Welt, in der sie leben. Dadurch geraten sie in extreme Situationen, die das sonst unbegreifbare Potential dieser fiktiven Welt vor Augen führen. Manchmal fällt es einem dann wie Schuppen von den Augen, und man erkennt etwas, was man nie für möglich oder vorstellbar gehalten hätte.



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