Craig Russell
(Photo © pro event Andreas Biesenbach)
Der schottische Autor gilt nicht nur als Vollkaskoversicherung für spannende, intelligente und düstere Unterhaltung - als Erfinder von Kommissar Jan Fabel versteht er es auch, das Lesevergnügen mitten in Deutschland anzusiedeln. Davon können "Tatort"-Ermittler nur träumen ... 12.03.2009
Es ist schon erschreckend und peinlich: Ein Schotte muß daherkommen und den Deutschen zeigen, wie man ihre Städte (Hamburg und Köln) so aufbereitet, daß sie international Thriller- und Noir-tauglich aufglühen. Schlimmer noch, er demonstriert, wie man diesem regionalen Kolorit mythische Dimensionen abgewinnt.
Ich wollte meine britischen Leser an einen für sie neuen Ort führen. Ich kenne Deutschland schon sehr lange, und mich nerven die Stereotypen in den britischen Medien. Das ist nicht das Deutschland, wie ich es kenne.
Nein, das ist bei Craig Russell viel gruseliger. Russell schreibt die besten deutschen Kriminalromane der Gegenwart, allerdings auf englisch. "Bei uns [also in Britannien] kann man auch mit Krimis literarisch ehrgeizig sein", sagt er. "Ich glaube, daß ich mich dadurch freier fühle als deutsche Autoren."
Mit Blutadler startete er 2005 seine als Sextett angelegte Reihe um den halb schottischen, halb ostfriesischen Kommissar Jan Fabel und sein Team. Es ist eine der besten Ensembleserien seit langem, voll tragischer Verwicklungen und Veränderungen.
Ein übler ukrainischer Gegenspieler beherrscht die Subplots: der Ex-Spetsnaz Witrenko, der die deutsche Unterwelt mit Gewalt unterwirft (man erinnere sich an die blutigen Schlachten zwischen Türken und Ukrainern um die Vorherrschaft in Hamburg, in der Tote lediglich Opfer des freien Wettbewerbs waren). Im ersten Roman eingeführt, zieht sich Witrenkos blutige Spur durch die Folgeabenteuer. Für Witrenko unterscheidet sich nämlich Hamburg von Afghanistan nur landschaftlich.
Im Mittelpunkt der bisherigen Romane steht immer ein Serienkiller. Natürlich ist man als Vielleser von diesen Kretins inzwischen überfüttert und genervt. Aber bei Russell nimmt man sie hin, weil er sie mit spannenden kulturgeschichtlichen Milieus verknüpft: Son of Sven aus "Blutadler" übt umstrittene Strafrituale der Wikinger aus, die in "Terra X" sicher nie behandelt werden.
Ich wollte, daß der Böse in meinem Buch eine fast märchenhafte Gestalt ist. Er ist eine Figur der Angst. Und das ist meine Absicht: Ich möchte die Leute ängstigen.
Neben der Noir-Atmosphäre und dem berührenden Ensemble sind es die genau recherchierten soziologischen oder kulturellen Hintergründe spezieller Themen, die die Stärke seiner Romane ausmachen. In Wolfsfährte geht es um die Gebrüder Grimm und ihre Horrormärchen, in Brandmal arbeitet Russell die Geschichte der RAF auf, und Carneval handelt von Kölner Jeckenkultur, Kannibalismus und Menschenhandel. (In letzterem Roman verschlägt es Fabel nach Köln, wo im jährlichen Ausflippen der Einheimischen der schlimmste Clown der Literatur seit Stephen Kings "Es" sein Unwesen treibt.)
Russells Thriller sind nichts für schwache Nerven und seine Tatbeschreibungen erschreckend: "Ich habe in einer Studie gelesen, daß es Frauen sind, die explizite Mordszenen wollen. Männer fürchten sich eher davor, Männer sind schwächer." Aber er scheut auch nicht davor zurück, intellektuelle Diskurse in die Romane einzubauen: "Webers Hypothese lautete, daß nur die Staatsorgane, also die Polizei und die Armee, physische Gewalt anwenden sollten, sonst werde der Staat zerfallen und Anarchie herrschen. Timo hatte geplant, in seiner Dissertation auszuführen, daß ein solches Monopol, wie im Fall der Nationalsozialisten, ebenfalls schädlich für den Staat sein könnte."
Die deutschen Ausgaben, erschienen bei Ehrenwirth in der Bastei-Lübbe-Gruppe, verdienen ein großes Lob: Sie sind liebevoll gestaltet, Satz und Druck sind vorbildlich. Hinzu kommen detaillierte Stadtpläne auf den Innendeckeln, die einem helfen, der Geographie der Handlung zu folgen (natürlich exzellent recherchiert) oder einen Überblick zu gewinnen. Die Übersetzungen des alten Cracks Bernd Rullkötter sind einfühlsam, treffend und lesen sich fast so rasant wie die Originale. Und Englisch ist nun mal "schneller" als Deutsch. Nur die besten Übersetzer kriegen da den Drive hin - Rullkötter gehört zweifelsfrei dazu.
Clever ist auch das Cover von "Carneval": Indem man das "N" kyrillisch gesetzt hat, weiß der Fan, daß der Arsch Witrenko auch diesmal an Bord ist.
Die Produktionsfirma Lisa Film hat übrigens die TV-Rechte für eine Jan-Fabel-Serie erworben. Angesichts der Düsternis und Vielschichtigkeit der Romane kann man dem nur mit gemischten Gefühlen entgegensehen. Deutsche oder österreichische Fernsehserien haben bisher schließlich nie das Niveau von HBO- oder BBC-Produktionen erreicht - und angesichts der Feigheit der Sender, egal ob öffentlich-rechtlich oder kommerziell, wird man Fabel wohl mindestens auf Brunetti- oder Laurenti-Niveau glattbügeln müssen.
Geboren wurde Craig Russell 1956 im schottischen Fife. Bevor er ab 1990 freier Autor wurde, belastete er seine Biographie mit einer ziemlich kruden beruflichen Mischung: Er war fast vier Jahre lang als Polizist und in der Werbebranche tätig - beides immerhin Jobs für Zyniker. "Einen Roman zu plotten ist so ähnlich, wie eine PR-Strategie zu entwickeln. Meine Erfahrungen als Polizist mit dem Tod helfen mir, wenn ich einen Mord beschreibe. Ich habe Todesszenen gesehen, und die sind nun mal nicht angenehm. Ich hasse diese Agatha-Christie-Morde. Jemand bekommt einen Schlag auf den Kopf, es gibt fast kein Blut, alles ist sehr schnell vorbei. Mord ist unangenehm, und das mußte ich schildern."
Das wohl Verblüffendste an Russell ist sein seit langem bestehendes Interesse an der deutschen Sprache und an der - man faßt es kaum! - deutschen Nachkriegsgeschichte. Als hätten Adenauer und Brandt größere populärkulturelle Qualität als "the Blitzkrieg" führende Sauerkrautfresser ...
Schon als Kind habe ich mich gefragt, wenn ich diese alten Filme oder englischen Serien mit Nazis gesehen habe, ob die Deutschen wirklich so blöd sind, wie unsere Medien sie bis heute gerne hinstellen.
Gute Frage. Aber man weiß so wenig. Jedenfalls wühlte sich Craig richtig tief in alles Deutsche, weiß mehr über das Land als die meisten Politiker, spricht die Sprache fließend und verfügt über einen Wortschatz, der für die Gäste einer deutschen Nachmittags-Talkshow verwirrend und unverständlich sein muß. Regelmäßige Reisen durch die Republik und die Lektüre deutscher Printmedien halten ihn auf dem laufenden. So verwendet er in den Romanen auch gerne aktuelle Bezüge, vom Kannibalen von Rothenburg bis zum Hamburger U-Bahn-Schubser. In ihnen drückt sich ein Verständnis für das Land aus, das den meisten deutschen Autoren völlig abgeht.
Und Russell - wie schon gesagt - trotzt dem Provinziellen tatsächlich mythische Qualitäten ab. Was Nicolas Freeling und Janwillem Van de Wetering für Amsterdam gelang, erledigt er für Hamburg. Und da er kein Rechtsradikaler ist, dürfte es nur eine Frage der Zeit sein, bis wir ihm ("Da draußen ist einer, der uns lieb hat") zu Tränen gerührt voller teutonischer Sentimentalität das Bundesverdienstkreuz an die Brust hängen.
Hamburger Senat und Polizei sind schon vorausgegangen und haben ihn 2007 mit dem "Polizeistern", was immer das sein mag, ausgezeichnet; nicht zuletzt wohl wegen seiner bestechenden Darstellung realistischer Polizeiarbeit. Zu seinen bisherigen Auszeichnungen gehören auch der Duncan Lawrie Golden Dagger (2007) der britischen Crime Writers Association, der französische Prix Polar und der CWA Dagger in the Library (2008).
Zu seinen literarischen Einflüssen oder Vorbildern befragt, nennt Russell als Gottvater natürlich Chandler an erster Stelle. "Ich möchte behaupten, daß meine Einflüsse von außerhalb des Genres kommen, von Heinrich Böll bis Mikhail Scholokhov. Ich bin ein Fan von Ross Macdonalds Lew-Archer-Krimis. Ich mag die Schweden Mankell und Sjöwall/Wahlöö und den Holländer van de Wetering."
Russel lebt mit seiner Frau und zwei Kindern in Pertshire. Zu seinen Hobbys gehören Kochen und Malen. Auf seiner Homepage ist eine weitere Serie angekündigt, auf die der Autor dieser Zeilen schon richtig scharf ist und die er kaum erwarten kann: Lennox, die im Glasgower Gangster-Milieu der 50er Jahre angesiedelt ist. Hundertprozentig was für Ted-Lewis- und Russell-James-Fans.
Craig Russell
(Photo © pro event Andreas Biesenbach)
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Kommentare_
Ich kenne zwar nur den ersten Roman von Mr. Russell aber ich fand diesen so gut, dass ich auf jeden Fall noch andere von ihm lesen werde. Doch ich musss sagen, dass mich der Obergauner Witrenko zu sehr an die Oberbösewichte aus den Bondromanen von Ian Fleming erinnert, um ihn ernstnehmen zu können. Auch finde ich, dass deutsche Autoren wie Willi Voss und Frank Göhre Hamburg schon in Sachen Noir "aufglühen lassen" haben. Hr. Göhre mit seinen St. Pauliromanen sogar stilistisch besonders ausgefeilt. Aber sei es drum. Ich freue mich auf jedenfall auf die Lektüre von "Wolfsfährte".