Stories_IDM aus den USA

Das Imperium schlägt zurück

Daß kultureller Imperialismus nicht immer von den Amerikanern ausgehen muß, beweist folgende Tatsache: "Britischer" IDM ist fast nur mehr in den USA zu finden ... Der EVOLVER präsentiert die wichtigsten Acts und Veröffentlichungen.    26.11.2007

Schon die alten Lateiner wußten: actio est reactio; frei übersetzt: Druck erzeugt Gegendruck. Während die USA ihre musikalische Massenkultur (HipHop, Metal, Pop) in aller Herren Länder exportieren, diffundieren an der Basis und von den Kommerzwächtern unbemerkt Musikrichtungen in die USA hinein, die nachweislich dort nie heimisch waren - wie zum Beispiel anspruchsvolle elektronische Musik und IDM. Da diese Sparte in England so gut wie ausgestorben ist (britische Kult-Labels wie das ehemals stolze Flaggschiff Warp Records haben sich inzwischen auf Post-Rock und HipHop spezialisiert), sah es für Zentraleuropäer so aus, als wäre IDM mehr oder weniger von der Bildfläche verschwunden. Doch langsam spricht es sich herum: Die neuen hot spots für Electronica heißen nicht mehr Sheffield oder Manchester, sondern Miami und San Francisco.

Ein kurzer Rückblick in der Geschichte der elektronischen Musik zeigt, daß erste Anzeichen für diese Ost-West-Clubkultur-Verschiebung bereits vor zehn Jahren evident waren. Der erste große Run auf experimentelle IDM, bekannt geworden durch Aphex Twin, Autechre, B12 etc., neigte sich 1995 schon seinem Ende zu. Die Sampling-Orgien wurden zusehends uninteressanter, viele Produzenten wanderten gleich in Richtung UK-Dancefloor ab. Die zweite Erfolgswelle für "britische" Electronica wurde 1998 von einer Band ausgelöst, deren zwei Mitglieder genaugenommen gar keine Engländer sind: Boards of Canada ("Music Has The Right To Children") stammen aus Edinburgh in Schottland.

Die Wirkung, die Boards of Canadas in den USA hatten, war gigantisch. Mit ihrer noch nie dagewesenen Mischung aus schrägen HipHop-Beats, soften Synth-Riffs und Melodien aus Naturdokus der späten Siebziger trafen sie ins Schwarze (Vinyl). Angeregt durch dieses überaus fruchtbare Substrat etablierten sich in den USA spontan schon damals einige feine kleine Labels, die sich auf anspruchsvolle Elektronik spezialisierten. Dazu gehörte etwa Isophlux Records, das sogar noch im selben Jahr zwei der besten IDM-Releases aller Zeiten veröffentlichte: Labelchef Shad T. Scotts "Sand Pail:ep+" (ISO 007) und Lexaunculpts "Oh Here Is Some Noises" (ISO 010). Weiters gab es da noch While, einen hierzulande völlig unbekannten US-Elektroniker aus Washington/Baltimore, der zwischen 1998 und 2002 mit seinen abstrakten Mäandern begeisterte (der EVOLVER berichtete). Auch Phoenecia aus Miami mit ihrem grandiosen "Randa Roomet" sind noch äußerst lebhaft in Erinnerung.

Heute, zehn Jahre später, sitzt in fast jeder amerikanischen Großstadt ein Computermusic-Nerd, und dank immer günstiger werdender Produktionskosten für CDs (ins Tonstudio geht sowieso keiner mehr) sprießt aus amerikanischem Boden eine IDM-Perle nach der anderen. Stellvertretend präsentiert der EVOLVER an dieser Stelle drei herausragende Releases des vergangenen Jahres. Allen drei Empfehlungen ist gemein, daß sie hier und jetzt (sorry, dort - in den USA) total am Puls der Zeit liegen. Gut zu wissen, daß die elaborierteste elektronische Musikrichtung zumindest in den Vereinigten Staaten auf unglaublich fruchtbaren Boden gefallen ist. Weitere Generationen werden folgen.

Ernst Meyer

Cepia - Natura Morta

ØØØØ 1/2

Ghostly International (USA 2007)

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Statt eines Debüts liefert Huntley Miller aus Minneapolis gleich ein musikalisches Statement: Zeitgemäße elektronische Musk braucht sich nicht hinter muffligem Filtering oder Cut-off-Spielereien zu verstecken. Der durch Remixe z.B. für Dosh (Anticon) und Fog (Lex) leidlich bekannt gewordene Musiker läßt geradlinige Piano- und Glocken-Sounds in einem faszinierenden Malkasten verschmelzen. Die Grundfarbe ist dabei blau, die Farbe der Melancholie. Dennoch ist Cepias Sinuskurven-Welt hell und freundlich, ohne dabei je kitschig zu wirken. Die elf Songs (es sind tatsächlich Songs im wahrsten Sinn des Wortes) mit ihren fanfarenartigen Themen und polternden Asynchron-Beats, die ruhig einmal auch hiphoppig daherkommen können, sind perfekte Tagesmusik. Die hellen Sounds wiederum vermögen auch hartnäckige Morgenmuffel aus dem Bett zu scheuchen. Millers Pianospiel ist durchwegs meditativ - und dank der mittleren Geschwindigkeit fällt es nicht schwer, darin zu versinken.

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Freescha - Freeschaland

ØØØØ 1/2

Attack 9 (USA 2007)

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Diese Herren sind schon länger im Geschäft: Nick Huntington und Michael McGroart aus San Fernando Valley veröffentlichen ihren Output seit 1999. In Europa gänzlich unbekannt, entwickelten sie innerhalb weniger Jahre einen völlig abgehobenen Stil, der nur schwer in Worte zu fassen ist. Die nun vorliegende Doppel-CD ist eine Retrospektive ihrer früheren Arbeiten. Disc 1 faßt die ersten drei EPs zusammen, Disc 2 beherbergt Web-only-Tracks, Sampler-Beiträge, unveröffentlichte Demos und Studio-Outtakes. Freescha tummeln sich gekonnt an der Schnittfläche zwischen Dark Ambient, IDM und Downtempo: tief dröhnende Drones, unendliche Hallräume und Metal-Percussion - eine Kombination, die an Seed oder Max Eastly und David Toops "Buried Dreams" erinnert. "Making Oranges" bietet gleich einen Flötenklang, der aus Debussys "Nachmittag eines Fauns" stammen könnte. Über die dumpf grummelnden Bässe legen Freescha gern hochfrequente Melodien, die aufgrund ihrer hymnenhaften Einprägsamkeit an OMD erinnern. Vocoder-Stimmen mauscheln Naturlyrik, Seemöwen kreischen: eine unheimliche, tantrische Mischung, die auf der zweiten Disc zunehmend verwirrender wird. Anspruchsvoll und in Wahrheit unverzichtbar für alle Fans psychoaktiver Electronika, siehe auch Coil etc.

Links:

Tycho - Past is Prologue

ØØØØØ

Merck (USA 2006)

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Das Beste zum Schluß: Der in San Francisco lebende Graphik-Designer Scott Hansen lehnt den Namen seines elektronischen Musikprojekts nicht zufällig an den des berühmten dänischen Astrologen Tycho Brahe (1546 bis 1601) an. Brahe war seiner Zeit weit voraus, verfügte als einer der ersten über professionell ausgestattete Instrumentarien zur Planetenbeobachtung und gilt als Vordenker des Teleskops. Ihm zu Ehren wurde ein riesiger Krater auf dem Mond benannt.

Auch auf dem Cover von Tychos "Past is Prologue" erscheinen einige Krater. Doch die sind nicht unbelebt: Wir sehen eine Lichtung mit Bäumen, einen Regenbogen und eine in oranges Licht getauchte Erde. Hansen setzt musikalisch exakt jene Elemente um, die auch die Grundlage seiner graphischen Arbeiten bilden: Sonne, Strahlen, Bäume, Wiesen und antroposophische Farbspiele. Fast immer ist irgendeine botanische Struktur zu erkennen.

Nun kann man sich auch vorstellen, wie Tychos Musik klingt. Er ist wirklich ein direkter Nachfolger der schottischen Boards of Canada, bloß noch viel melodiöser und vielschichtiger. Er verwendet sehr vertraute Ingredienzen: Downtempo-Beats, leicht schwebende Piano-Sounds und Synthies, garniert mit zahlreichen Radiotapes und Vocalsamples. Und gerade weil seine Zutaten so geläufig erscheinen, ist es sein besonderes Verdienst, einen ganz eigenständigen Stil entwickelt zu haben.

Gleich der Opener "From Home" wiegt uns sanft in einem romantischen Tagtraum. "Sunrise Projector" geht fast als postmoderne Programmusik durch: Zarte Frauen- und Vogelstimmen werden bald von einer mächtigen Baßlinie untermauert, während pulsierende Synthie-Melodien einen Hauch von Wehmut und Kindheitserinnerungen wecken. Diese sentimentale Stimmung bleibt das gesamte Album hindurch aufrecht. Allerdings ist es einige Zeit her, daß unser Langzeitgedächtnis auf so wohltuende Weise stimuliert wurde. Doch es wäre ungerecht, in Tychos Output bloß modernisierte Boards zu sehen. Die Herangehensweise ist bestimmt ähnlich, jedoch punktet Scott Hansen mit deutlich mehr Musik und bringt auch mehr Ambience ("Brother") in seinen Mix ein. Vielleicht stimmt der Albumtitel ja wirklich - und Vergangenheit bedeutet Zukunft. Zumindest kann das eine ohne das andere nicht sein.

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