Stories_Slim Cessna´s Auto Club

Letzte Werkstatt vor der Hölle

Eine wilde Truppe von Musikern aus Denver/Colorado zelebriert finsteren Southern-Gothic-Country-Gospel und bringt den Teufel zurück ins Gebet. Emmerich Thürmer besuchte ihren Gottesdienst.    29.07.2009

Wer gezwungen ist, wegen einer Autopanne mit seinem Custom-Car bei Slim Cessna und seinen durchgeknallten Mechanikern einen Boxenstop einzulegen, der hat nicht nur eine falsche Ausfahrt vom "Stairway To Heaven" genommen, sondern ist den "Lost Highway" schon mehr als 666 Meilen entlanggebrettert ...

 

This is the country band that plays the bar at the end of the world.

Jello Biafra, Label-Chef von Alternative Tentacles

 

Pimp My Soul

 

Gospel Music: Der Name für das Genre leitet sich vom englischen Begriff für "Evangelium" ab, der Verkündigung der Frohen Botschaft des Herrn. Ursprünglich diente sie nordamerikanischen schwarzen Sklaven als "Tranquilizer", um sich von der harten Arbeit auf den Feldern und den Plantagen abzulenken, eine gesungene Verheißung für alle, die ein Leben ohne Mühsal und Pein versprach, spätestens im Jenseits ...

Um 1930 okkupierten dann weiße Hillbillys den Sound und transformierten ihn für ihre Bedürfnisse. Einerseits konnten auch die weißen Hinterwäldler ihre Last unter der wirtschaftlichen Depression kaum noch (er)tragen; die Not übersprang somit die Rassengrenzen. Andererseits adaptierten sie die schwarzen Klänge, um eine eigene Musik zu haben, die als moralisches Bollwerk fungierte gegen den im Blues und im Prä-R´n´R in vielen liederlichen Liedern offensiv angepriesenen Sünden-Cocktail aus Alkohol und exzessiver Körperlichkeit:"Singing Gospels Will Save Your Soul!"

Allerdings waren die meisten Schäflein der Gospel-Gemeinde nur blasse Theoretiker der Sünde, und viele der populären Prediger und spirituellen Kreuzritter kannten weder die als Brutstätten des Satans propagierten Blues-Spelunken von innen noch wußten sie, was richtiger Sex ist. Das verlieh der Musik und den Texten im Gospel eine oft eher unglaubwürdige und künstliche Note.

 

Bringing The Devil Back In Gospel

 

Sobald Slim Cessna´s Auto Club ihren Gospel-Gottesdienst zu zelebrieren beginnen, merkt man gleich, daß die Band weiß, wovon sie singt. Da schrauben sich klassische Chorgesänge vor schrägen Noise-Altären gen Himmel und sind dabei dennoch aus traditionellen Instrumenten wie Akkordeon, Slide-Gitarren oder Kontrabaß gezimmert. Wenn die beiden Front-Prediger Slim Cessna und Munly Munly von Verzweiflung, Sünde oder dem letzten Bier mit Satan erzählen und dabei um Vergebung flehen, glaubt man den Herren aufs Wort. Der dazugehörige Sound klingt gefährlich, spannend und vielschichtig; er funktioniert sowohl als echter Gospel als auch als Karikatur eines religiösen Fundamentalismus und vermählt traditionelle Momente mit beinahe treibender Punk-Attitüde.

Slim Cessna´s Auto Club sind eine dieser unglaublichen Bands aus Denver. Chef-Kantor Slim Cessna spielte schon vor Jahren zusammen mit David Eugen Edwards, dem späteren Frontmann von 16 Horsepower (jetzt: Woven Hand) in The Denver Gentlemen.

"Als erster Versuch war das eine tolle Sache", erzählt Cessna. "Ich konnte lernen, was es heißt, in einer Combo Musik zu machen - und was Country-Music bedeutet." Doch das Nachspielen fremder Lieder reichte ihm nicht: "Ich hatte einige eigene Songs, die ich so interpretiert haben wollte, wie ich mir das vorstellte", sagt der hagere Typ mit schräger Nachtvogelbrille, blitzenden Goldzähnen und schmuddeligem Cowboyhut.

Wie gut dieses Song-Material klingt, das bezeugen sowohl die fünf regulären Studioalben der Band als auch die wilden Live-Orgien, die eher einer außer Kontrolle geratenen Wanderpredigerzeremonie gleichen als einem konventionellen Konzert: ein Sound zwischen Appalachen-Bluegrass aus dem 19. Jahrhundert und aggressivem "Blutgrass" der Metropolen der Gegenwart - vor einem Publikum, so buntgemischt wie die Menschheit es seit dem Fiasko beim Turmbau zu Babel ist.

 

Unsere Hörer haben nur eines gemeinsam: sie sind alle keine Jünger des Mainstream. So spielen wir einen Abend vor einem Haufen tätowierter Freaks mit Rockabilly-Frisuren, und am nächsten vor Emo-Kids, die uns aus - welchem Grund auch immer - genauso schätzen.

Slim Cessna

 

Live-Gigs machen Spaß und beglücken das Herz des Musikmissionars. Die Arbeit im Studio wird für SCAC aber inzwischen immer komplizierter, wie man an der fast dreijährigen Phase vom vorangegangenen bis zur Vollendung des aktuellen Albums "Cipher" im Sommer 2008 sehen kann. Mittlerweile hat sich die Meßdienerschaft der Combo wie Jesus Jünger über die gesamten USA verstreut. Slim wohnt in Pittsburgh, Multiinstrumentalist und Zweitsänger Munly Munly noch in Denver, und Reverend Dwight Pentacost, der zweite Gitarrist, hat sich eine "Gemeinde" in Boston aufgebaut - was für die Studioarbeit "transkontinentalen Hyper-Streß" bedeutet, so der Meister-Arrangeur.

 

 

 

 

Faust und Mephisto, das rastlose Energiebündel und der finstere Schalk, das sind die beiden Role-Models des Auto Clubs, personizifiert in Slim Cessna und Munly Munly. Cessna ist die klare, klagende Stimme des Herrn; er ist für einen Gesangsstil verantwortlich, den er von Country-Jodelkönig Slim Whitman übernommen hat:

 

Ich war schon immer ein großer Fan von Slim Whitman, das Jodeln im Country gehört einfach zum Initiations-Sound, und gerade seine hohen Falsett-Töne sind einfach faszinierend. Er ist der bisher einzige Country-Sänger, dessen Style ich wirklich zu imitieren versucht habe.

 

Den heiligen Geist atmete Cessna dabei bereits im Elternhaus quasi permanent ein. Sein Vater war ein populärer Baptistenprediger in ihrer Heimatstadt Fairplay:

 

Religiosität war ein integraler Bestandteil meiner Kindheit, wovon ich heute noch zehre, auch wenn ich inzwischen meine eigene Coverversion des Christentums gefunden habe.

 

Den Gegenpart dazu bildet Munly Munly, selbst Frontman der Dark-Edge-Countryband "Munly & The Lee Lewis Harlots". Er steuert die tiefen, grummelnden Vocals bei, mit denen er seine in das Band-Konzept integrierten dunklen Geschichten über das Unbewußte, über seelische Deformationen und Mordgedanken vorträgt, während Cessna sein lyrisches Augenmerk eher auf den konventionellen, alltäglichen und oft skurrilen Wahnsinn im Leben Amerikas, auf Truckdriver, Barbesitzer und Barbesucher richtet.

Umbraust vom treibenden Country-Gospelsound und den Backing-Chören der Mitmusiker peitschen sich ihre Stimmen gegenseitig auf. Wenn die eine von baldiger Erlösung singt, rechnet die andere bösartig die bisher ungesühnten Vergehen zusammen. Dabei entsteht nicht nur ein musikalisches Duell, sondern zusammen mit dem Gesamt-Sound der Band die musikalische Hillbilly-Apokalypse.

Und weil der Weltuntergang bekanntlich nie verkehrt ist, sollte man das zumindest einmal gehört haben, bevor es zu spät ist ...

Emmerich Thürmer

Slim Cessna´s Auto Club

(Photos © Gary Isaacs; Linocut ©Jon Killough)


Diskographie:

 

Slim Cessna´s Auto Club, 1995
American Country Music Changed Her Life (Live), 1998
Always Say Please and Thank You, 2000

S/T, 2001
Blovdy Tenent Trvth Peace, 2004
Jesus Let Me Down (Live), 2005

Cipher, 2008

Links:

Kommentare_

Alex Melomane - 16.03.2011 : 12.54
Hier mein Interview mit Slim Cessna (aufgenommen am 31.12.2009 in Denver):
http://cba.fro.at/15862
MombasaJoe - 01.05.2011 : 10.07
Tour Dates:

07.06.2011 GER-Hamburg, Hafenklang
08.06.2011 GER-Berlin, Bassy
09.06.2011 GER-Bielefeld, Forum
10.06.2011 GER-Hannover, Glocksee (+ Bob Log III)
11.06.2011 GER-Beverungen, Orange Blossom Special
12.06.2011 GER-Nürnberg, Desi
13.06.2011 GER-München, Theatron
14.06.2011 CH-Zürich, tbc
15.06.2011 CH-Biel, tbc
16.06.2011 GER-(Cologne ?)
17.06.2011 NL-Harleem, tbc

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