Kino_Die fetten Jahre sind vorbei

Keine Macht für niemand!

Das neue Meisterwerk des Österreichers Hans Weingartner erzählt originell und unverkrampft die Geschichte dreier junger Rebellen auf der Suche nach sich selbst.    25.11.2004

Wir befinden uns im Jahre 2003 nach Christus. Ganz Deutschland wird vom Kapitalismus beherrscht. Ganz Deutschland? Nein! Eine von unbeugsamen jungen Berlinern bewohnte WG hört nicht auf, der Macht des Geldes Widerstand zu leisten. Und das Leben ist nicht leicht für die Manager und Unternehmer der Umgebung ...

Denn Jan (Daniel Brühl) und Peter (Stipe Erceg) haben ihre ganz eigene Methode gefunden, gegen die ungleiche Verteilung der Güter auf der Welt zu protestieren. Sie brechen nachts in die Villen der Reichen ein - nicht um etwas zu stehlen, sondern um das Mobiliar auf den Kopf zu stellen. Dazu hinterlassen sie Botschaften wie "Die fetten Jahre sind vorbei" oder "Sie haben zu viel Geld", unterzeichnet mit "Die Erziehungsberechtigten". Nicht finanzielle Schädigung, sondern Verunsicherung und Irritation sind die Ziele der beiden Jung-Revoluzzer.

Kompliziert wird die Lage allerdings, als Peters Freundin Jule (Julia Jentsch) mit in die WG zieht. Jan und Jule verlieben sich, steigen zusammen in eine Nobelvilla ein - und werden prompt von Manager Hardenberg (Burghart Klaußner), dem Bewohner des Domizils, ertappt. In Panik schlagen die Amateureinbrecher den Millionär nieder und entführen ihn mit Peters Hilfe in eine Tiroler Berghütte. Dort wird die Situation aber erst richtig verwickelt. Denn der vermeintliche Klassenfeind entpuppt sich als Alt-68er, der beim Joint gern launige Geschichten über die "guten alten Zeiten" zum besten gibt. Als Peter dann auch noch mit der Affäre zwischen Jan und Jule konfrontiert wird, scheinen sich die Fronten zwischen den Generationen und den damit verbundenen Wertevorstellungen vollends aufzulösen. Die drei Jugendlichen sehen sich vor die Frage gestellt, wen sie eigentlich retten wollen: die Welt oder letztlich nur sich selbst? Ist Protest vielleicht doch nur eine "Jugendsünde"? Ist es Zeit, erwachsen zu werden - also in die Fußstapfen von Hardenberg zu treten?

"Rebellieren ist heutzutage halt schwieriger geworden", erkennt Jan. Und das ist auch dem gebürtigen Vorarlberger Hans Weingartner, der in den 90er Jahren selbst in einem besetzten Haus in Berlin lebte, bewußt. Die Sympathie des Regisseurs für seine jungen Helden, die ebenso eifrig wie hilflos den Aufstand proben, ist in jeder Minute spürbar. Dabei behandelt Weingartner die potentiell spröde Thematik erfreulich originell und vielschichtig und bietet bei allen Konflikten ein äußerst humorvolles und unterhaltsames Porträt dreier Rebellen, die sich weigern, ihre Ideale aufzugeben - mögen diese auch noch so naiv erscheinen. Bis zum Ende verzichtet der Regisseur dabei auf den erzieherischen Zeigefinger, vielmehr präsentiert er noch eine sehr erfrischende Schlußpointe.

Die deutsch-österreichische Koproduktion schaffte es denn dieses Frühjahr auch völlig zu Recht in den offiziellen Wettbewerb der Filmfestspiele von Cannes, wo sie zwar keinen Preis erhielt, aber immerhin mit 15minütigen Standing Ovations gefeiert wurde. Möglicherweise ist Widerstand doch nicht so zwecklos.

 

Der EVOLVER verlost in Kooperation mit Filmladen 3 Bücher und 3 T-Shirts zu "Die fetten Jahre sind vorbei" (siehe Links)!

Anne Herskind

Die fetten Jahre sind vorbei

ØØØØØ


Ö/D 2004

126 Min.

dt. OF

Regie: Hans Weingartner

Darsteller: Daniel Brühl, Julia Jentsch, Stipe Erceg u. a.

 

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