Stories_Berlinale 2007/Journal I

Cyborgs und blinde Samurai

Anne Herskind besucht für den EVOLVER wieder das Berliner Filmfestival. Ihr erster Bericht: Filme aus Japan und Südkorea behandeln einfühlsam bis skurril die Themen Außenseitertum und Einsamkeit - aber auch die befreiende Wirkung der Liebe.    14.02.2007

Eine echte Überraschung auf der Berlinale: Im Wettbewerb läuft eine Liebeskomödie aus Südkorea - gedreht von keinem anderen als Park Chan-wook! Kennt der Asien-Cineast den Regisseur bisher hauptsächlich als Gestalter finsterer Rachedramen (jüngstes Beispiel: "Sympathy for Lady Vengeance"), so zeigt er sich in seinem Wettbewerbsbeitrag Sai bo gu ji man gwen chan a ("Ich bin ein Cyborg, aber das macht nichts") von einer etwas anderen Seite.

 

In lichten Farben erzählt Park die Romanze zweier skurriler Außenseiter: Young-goon (Lim Soo-jung) und Il-soon (Jung Ji-hoon) hat es beide in die Psychiatrie verschlagen. Young-goon ist überzeugt, ein Cyborg zu sein, verweigert die Nahrungsaufnahme und versucht sich durch Ablecken von Batterien zu ernähren. Ihr bevorzugter Gesprächspartner ist der Getränkeautomat in der Lobby. Il-soon wiederum ist Kleptomane und hat außerdem panische Angst, sich irgendwann zu einem Punkt zu verflüchtigen. Deshalb klaut er nicht nur Gegenstände, sondern eignet sich in seltsamen Ritualen auch besondere Eigenschaften und Talente seiner Mitpatienten an. Die Annäherung der beiden süßen gestörten Teenies geht verträumt und verspielt vonstatten - doch auch die Finsternis ist nicht weit. Beide, so stellt sich heraus, wurden von ihren Müttern verraten bzw. verlassen, finden sich in der kalten Gesellschaft um sie herum nicht zurecht und hegen wilde Rachephantasien gegen die Außenwelt. Vor allem Young-soon erträumt sich im Detail, wie sie die komplette Ärzteschafft im Kugelhagel eliminiert. Ihren finalen Auftrag sieht sie darin, als lebende Atombombe die ganze Welt zu vernichten. Und so ist letztlich die Überraschung doch nicht ganz so groß: Park hat zwar in der Tat eine Komödie geschaffen, aber eine mit sehr bitteren Untertönen jenseits der lustig-skurrilen Oberfläche.

 

Bitter ist auch der Blick, den der Forumsbeitrag Aju teukbyeolhan sonnim ("Ad Lib Night") auf die koreanische Gesellschaft wirft. Eine junge Frau aus Seoul (Han Hyo-joo) läßt sich von drei Jungs aus der Provinz überreden, für Geld die Tochter eines Sterbenden zu spielen, um ihm die letzten Stunden erträglicher zu machen. Auf dem Land angekommen, wird die Ersatztochter von den Verwandten und Nachbarn des Todkranken kaum beachtet. Die Nacht vergeht mit Grillen, Streitigkeiten und vor allem dem Warten auf den Tod des Vaters. Im Laufe der Nacht stirbt dieser tatsächlich, ohne das Bewußtsein wiederzuerlangen, und die namenlose junge Frau kehrt wieder nach Seoul zurück. Eine unspektakuläre Handlung, die Lee Yoon-ki auch sehr unaufdringlich inszeniert - aber mit seiner schlichten, ruhigen Art zieht der Film den Zuschauer im Laufe der Zeit doch in seinen Bann. Dicht an den Figuren und mit sicherem Blick fürs Detail entwirft Lee das Bild einer Gesellschaft, in der der einzelne nur die Wahl zwischen erstickender Überwachung oder aber Einsamkeit und Entfremdung hat. Trotzdem hat die gemeinsam verbrachte Nacht einige der jungen Leute immerhin soweit berührt, daß der Film nicht in völliger Hoffnungslosigkeit endet.

 

Ein weiterer ruhiger Film zum Thema Entfremdung stammt von dem japanischen Regisseur Yoji Yamada. Bushi no ichibun ("Love and Honor") ist nach "The Twilight Samurai" und "Hidden Blade" der dritte Teil von Yamadas Samurai-Trilogie. Wie in den beiden Vorgängern behandelt der Regisseur hier den Zwiespalt von Samurai niederer Rangordnung gegen Ende der Edo-Zeit (1603-1867) zwischen Pflicht und Ehre einerseits und einem erfüllten (Privat-)Leben andererseits. Den Mythos des Samurai als ehrenhafter Held dekonstruiert er dabei in allen drei Teilen gründlich.

Der Krieger ist im 19. Jahrhundert zum kleinen Beamten geworden, der seinen mickrigen Lebensunterhalt mit langweiligem Tagewerk bestreitet. Im Falle von "Love and Honor" hat der Protagonist Shinnojo Minura (Takuya Kimura) das Schwert durch Eßstäbchen ersetzen müssen und ist jetzt ein Vorkoster des Fürsten - ein unbefriedigender, unwürdiger Job, wie er gegenüber seiner Frau Kayo (Rei Dan) beklagt. Doch es kommt noch schlimmer: Durch ein giftiges Fischgericht, das er probieren muß, verliert er sein Augenlicht. Fortan vegetiert er im Haus vor sich hin, unfähig, selbst seinen Lebensunterhalt zu bestreiten. Als seine Frau sich auf eine Liebschaft mit dem mächtigen Shimada (Mitsugoro Bando) einläßt, um dadurch ein regelmäßiges Auskommen für ihren Mann zu sichern, verstößt dieser sie - und fordert den weitaus überlegenen Rivalen zum Duell.

Solch ein Schwertkampf zur Ehrenrettung ist nun kein ungewohntes Motiv für einen japanischen Film. Bemerkenswert ist vielmehr, daß dieses Duell sowie der Sieg über den Rivalen hier nur Nebensache sind. Das einzige, was letztlich für Minura zählt, ist die Versöhnung mit seiner Frau. Yamada findet eine klare Antwort, ob nun Liebe oder Pflichterfüllung im Leben Priorität hat. Bei allen finsteren Untertönen trifft dies auch für Park Chan-wooks Film zu. Die Pflicht des weiblichen Cyborg, die Welt zu vernichten, kann letztlich nur durch Liebe aufgelöst werden - was denn auch in einer wunderschönen Schlußeinstellung geschieht. Und so hat die diesjährige Berlinale schon einmal eine Erkenntnis gebracht: Es geht nichts über konsequente asiatische Happy-Ends.

Anne Herskind

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