Stories_Berlinale 2006/Journal II

Mit Schwung in die Katastrophe

Neil Jordan, Nick Cave, Sabu: Das Panorama-Programm der Berlinale wartet mit prominenten Namen auf – und glücklicherweise auch mit einigen herausragenden Filmen.    17.02.2006

Da wäre zum Beispiel Neil Jordans Breakfast on Pluto, die märchenhafte Geschichte um den Werdegang des jungen Tranvestiten Patrick "Kitten" Braden im Irland und London der 70er Jahre. Patrick (Cillian Murphy) trägt seit seiner Kindheit gern Frauenkleider und hat eine blühende Phantasie. Beides läßt ihn in seinem Heimatkaff Tyreelin gehörig anecken. Und so packt er eines Tages sein Bündel und macht sich auf, die Welt kennenzulernen. Doch diese hält sehr viele böse Überraschungen für ihn bereit.

Ein mutterloser Transvestit in Irland, dessen guter Freund bei einem Bombenanschlag stirbt, der auf dem Straßenstrich landet, von der Polizei brutal zusammengeschlagen und von einem Triebtäter fast erwürgt wird - dieser Stoff hätte sich auch für ein beklemmendes Sozialdrama geeignet. Doch davon ist "Breakfast on Pluto" Lichtjahre entfernt. Kittens Haßwort Nummer Eins ist "serious", mit Ernsthaftigkeit kann er in seinem Leben absolut nichts anfangen. Und da er seine Geschichte in einem langen Flashback selbst erzählt, tauschen die Rotkehlchen auf den Milchflaschen munter den letzten Tratsch aus und der kernige Rocksänger Billy Rock (Gavin Friday) wird bei Kittens Schnurren wachsweich ...

Cillian Murphy, aus "Batman Begins" und "Red Eye" als Schurke bekannt, gibt hier eine grandiose Vorstellung als unerschütterlicher Verfechter von Schönheit und Liebe im Leben. Und Jordan ist es gelungen, eine an sich bittere Geschichte mit so viel Humor und Warmherzigkeit zu erzählen, daß der Zuschauer zum Schluß schon selbst dazu neigt, an das Gute in der Welt zu glauben.

 

Doch dieser Anflug vergeht schnell nach der Sichtung von John Hillcoats neuem Film, The Proposition. Drehbuch und Musik stammen vom Düsterpoeten Nick Cave, eine leichte Komödie war also von vorneherein nicht zu erwarten, doch in diesem Anti-Western geht es schon extrem finster zur Sache. Der Schauplatz ist Australien Ende des 19. Jahrhunderts. Nach einem wilden Feuergefecht werden die beiden Outlaws Charlie und Mikey Burns (Guy Pearce & Richard Wilson) vom Polizeichef Captain Stanley (Ray Winstone) festgenommen. Stanley stellt Charlie ein Ultimatum: Wenn er nicht bis zum Weihnachtstag seinen älteren Bruder Arthur (Danny Huston), einen brutalen Bandenchef, aufspürt und tötet, wird er den 14jährigen Mikey aufhängen lassen. Charlie willigt ein und macht sich an die Verfolgung seines Bruders. Doch im Laufe der kommenden Tage verliert der Captain langsam die Kontrolle über die Stadtbewohner, die Mikey lieber auf der Stelle zu Tode gepeitscht sehen möchten. Richtig kritisch wird die Lage, als auch noch seine sanfte Ehefrau Martha (Emily Watson) ins Geschehen eingreift.

"The Proposition" ist zugleich ein sehr brutaler und auch ein sehr schöner Film. Halbe Köpfe werden weggeschossen, ganze Köpfe abgesägt, die Peitsche ist irgendwann so vollgesogen mit Blut, daß sie ausgewrungen werden muß. Dann wieder sitzen Charlie und Arthur zusammen auf einem Felsen vor dem Sonnenuntergang, reiten durch die Weiten Australiens, singt ein Bandenmitglied melancholische Lieder am Lagerfeuer. Arthur philosophiert über Poesie, bevor er sein nächstes Opfer niedersticht, und das Pferd des bösartigen Großgrundbesitzers Eden Fletcher (David Wenham) ist schneeweiß. Schönheit und Brutalität gehören in diesem Film untrennbar zusammen. Dementsprechend gibt es auch keine Aufteilung in gute und böse Charaktere. Alle Hauptfiguren haben Schuld auf sich geladen oder laden sie im Laufe des Films auf sich, auch die so rein wirkende Martha. Und so gibt es auch für keinen der Protagonisten die Hoffnung auf Erlösung. "Du hast mich gekriegt, Charlie. Und was nun?" fragt Arthur ganz zum Schluß. Nichts als schwarze Leinwand.

 

Was nun - das fragen sich in Detlev Bucks Knallhart allerdings auch der 15jährige Michael (David Kross) und seine Mutter Miriam (Jenny Elvers-Elbertzhagen), nachdem sie von Miriams reichem Liebhaber umstandslos vor die Tür gesetzt wurden. Sie sind gezwungen, aus dem reichen Berlin-Zehlendorf in das rauhe Neukölln umzuziehen. Dort wird Michael bald von der Bande des Schlägers Erol (Oktay Özdemir) tyrannisiert. Erst als er anfängt, als Drogenkurier zu arbeiten, wird er respektiert und hat seine Ruhe. Und der neue Job verschafft ihm sogar ein ganz neues Selbstbewußtsein. Doch es ist natürlich nur eine Frage der Zeit, bis bei einem Deal etwas gründlich schiefgeht.

Sozialer Brennpunkt Neukölln: Verwaschene Bilder zeigen ein trostloses Milieu, aus dem es scheinbar keinen Ausweg gibt. Schlimm, schlimm. Und so wurde in den Medien viel darüber diskutiert, ob Bucks Darstellung des Berliner Stadtteils nun authentisch oder völlig übertrieben und klischeehaft ist. Dabei muß aber gesagt werden: Soooo bleischwer ist der Film jetzt auch wieder nicht. Bei aller Tristesse blitzt zwischendurch immer wieder ein sehr angenehmer trockener Humor durch. Die finale Katastrophe ist vorprogrammiert, aber der Weg dahin ist mit viel Schwung und Tempo inszeniert. Dies ist definitiv kein Betroffenheitskino.

 

Ein 15Jähriger, der zusehens ins Abseits gerät, ist auch der Protagonist von Sabus Beitrag Dead Run. Der introvertierte Shuji (Yuya Tegoshi) lebt in der Kleinstadt Hama und fühlt sich sowohl in der Schule als auch zu Hause einsam und isoliert. Dann lernt er die gleichaltrige Eri (Hanae Kan) kennen, für die er immer mehr Faszination entwickelt. Eri lebt seit dem Selbstmord ihrer Eltern bei Onkel und Tante. Sie macht Shuji mit dem mysteriösen Priester Yuichi (Etsushi Toyokawa) bekannt, dessen Bruder die gesamte Familie seiner Verlobten massakriert hat. Zu Yuichi entwickelt Shuji ein immer engeres Verhältnis, während seine Familie sich langsam auflöst und die Yakuza anfängt, sich für Grundbesitz in der Kleinstadt zu interessieren.

Isolation, Entfremdung, Selbstmord, Mord, Schicksal, Karma, Schuld und Sühne ... huah, all das ist hier untergebracht. Und viele, viele Parallelen bei Figurenkonstellationen, eine ausgeklügelte Farbsymbolik, tiefsinnige Dialoge sowie beredtes Schweigen. Der japanische Regisseur, der sich dem Kinopublikum gern mit den Worten "I am Sabu, the genius director from Japan" vorstellt, läßt sich viel Zeit beim Erzählen seiner Geschichte, aber trotzdem wirkt die Story insgesamt überfrachtet und konstruiert. Das ist schade, denn viele der einzelnen Szenen sind einfach wunderbar: ausdrucksstark, intensiv, berührend. Nur als Ganzes haut der Film nicht so wirklich hin. Vielleicht liegt dies daran, daß Sabu zum ersten Mal nicht auch selbst das Drehbuch geschrieben, sondern einen Roman von Kiyoshi Shigematsu als Grundlage verwendet hat. Vielleicht auch nicht.

 

Aber das macht ja alles nichts. Gegen Ende der Berlinale läuft nämlich noch ein japanischer Film über junge Delinquenten im Panorama-Programm: Big Bang Love, Juvenile A von Takashi Miike. Der Streifen ist erfreuliche 85 Minuten kurz und handelt von zwei Knastinsassen, die ein Paar werden - bis der eine dann plötzlich seinen Lover umbringt. Laut Programmheft ist Kultregisseur Miike hier nicht nur daran interessiert, Gewalt dazustellen, sondern auch zu ergründen, wo deren Ausbruch herkommt. Hm. Man darf gespannt sein.

Anne Herskind

Berlinale 2006


56. Internationale Filmfestspiele Berlin

 

Berlin, 9.-19. Februar 2006

 

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