Kino_Elementarteilchen

Die Einsamkeit in jedem

Houellebecqs Skandalroman in der Verfilmung von Regie-Star Oskar Roehler: eine lebensbejahende Interpretation eines tiefzynischen und von Weltverachtung durchzogenen Werkes.    23.02.2006

Bruno (Moritz Bleibtreu) und Michael (Christian Ulmen) haben, außer der Tatsache, daß sie zufälligerweise Halbbrüder sind, nicht sehr viel miteinander gemein. Der eine, Bruno, ist ein sexfixierter, frustrierter Enddreißiger, der andere, Michael, forscht in seinem Beruf als Molekularbiologe an der Methode der Reproduzierbarkeit des menschlichen Erbgutes ohne sexuellen Kontakt. Beide wuchsen sie getrennt voneinander bei ihren Großeltern auf, weil ihre Mutter (Nina Hoss) es bevorzugte, als Freie-Liebe-propagierende Hippie-Braut ihre eigenen Vorstellungen zu verwirklichen. Bevor Michael nach Irland abreist, wo er nach drei Jahren Unterbrechung seine Forschungsarbeiten wieder aufnehmen möchte, besucht er seine erste große Jugendliebe Annabelle (Franka Potente). Obwohl er bereits fast 40 ist, hatte er noch nie Sex, geschweige denn eine Beziehung mit einer Frau. Er spürt, daß Annabelle seine letzte Chance auf ein glückliches Leben ist. Von solchen Gedanken wird auch Bruno geplagt. Nachdem seine Frau ihn verlassen hat, sucht er auf Sexpartys gleichzeitig die schnelle Befriedigung und die perfekte Partnerin. Schließlich begegnet er Christiane (Martina Gedeck). Mit ihr soll alles anders werden.

Oskar Roehler zeigte zuletzt mit "Agnes und seine Brüder" wie es gelingen kann, die Balance zwischen absurder Komik und tiefster Melancholie zu halten. Und auch in "Elementarteilchen" ist diese ihm ganz eigene Handschrift zu spüren, und das in jeder Szene. Es ist unerheblich, ob Roehler der schwierigen, eigentlich unverfilmbaren, Vorlage gerecht wird. Entscheidend ist, ob "Elementarteilchen - der Film" als Film funktioniert oder nicht. Und das tut er auf eine sehr berührende, ehrliche Art. Wir erleben, wie zwei Menschen fast krampfhaft nach dem ihnen eigentlich doch zustehenden Stück Glück suchen, und es, wenn es ihnen dann tatsächlich in Gestalt einer Frau einmal erscheint, aus tiefsten unverarbeiteten Verlustängsten regelrecht einzementieren wollen. In den Hintergrund tritt dabei der von Houellebecq thematisierte Generationenkonflikt mit der Welt der freiheitsliebenden, egoistischen 68er. Wenn Roehlers Film sich eher im Vorbeigehen auf dieses Sujet einläßt, dann wirken die gezeigten "Hippie-Get-Togethers" eher wie schlechte Werbeklischees, womit sie zweifellos die schwächste Komponente dieser Verfilmung darstellen.

 

Durch die mit Hilfe von Bruno und Michael illustrierten zwei unterschiedlichen Perspektiven auf das heutzutage zu Tode diskutierte Thema Sex baut Roehlers Film neben der eigentlichen Handlung zugleich eine doppelte Spannung in der Gedankenwelt des Zuschauers auf. So sehr wir uns auch für das Schicksal der Brüder interessieren, ihr jeweiliger Umgang und Blick auf das andere Geschlecht erlaubt tiefe Rückschlüsse auf den Zustand unserer Gesellschaft. Während die einen die Flucht vor der nicht aufzuhaltenden Übersexualisierung des Alltags ergreifen, leben andere nur noch für die nächste schnelle Nummer. Beide Wege enden in einer Sackgasse, sprich in der eigenen Isolation. Fast selbstverständlich verzichtet "Elementarteilchen" auf die explizite Darstellung der pornographischen Passagen aus Houellebecqs Vorlage. Immerhin wollten die Produzenten Bernd Eichinger und Oliver Berben einen Publikumserfolg und kein kommerzielles Waterloo erschaffen. Einige mag das Domestizierte und Gemäßigte des Films enttäuschen, für das Verständnis der Protagonisten und ihrer Gefühlswelt ist es jedoch keineswegs notwendig, zunächst einen vom Boulevardjournalismus inszenierten Aufschrei zu provozieren.

Noch nie hat man Moritz Bleibtreu derart beeindruckend aufspielen sehen wie hier. Selbst der denkwürdige, strapaziöse Auftritt in "Das Experiment" verblaßt hinter seiner Darstellung des depressiven, sexsüchtigen Bruno. Natürlich ist das für einen Schauspieler eine äußerst dankbare Rolle, durchleidet Bruno doch gleich mehrere Höllenfahrten. Aber auch das will gekonnt und ohne lächerlich wirkendes Overacting transportiert werden. Bleibtreu verfügt in den ruhigen, nachdenklichen Momenten über eine Leinwandpräsenz, die alles und jeden überstrahlt. Einzig Martina Gedeck kommt dagegen noch an. Sie gibt eine sehr ambivalente Persönlichkeit: nach außen stark, fordernd und offen, innerlich unsicher, fragend, leer. Der zweite Handlungsstrang um Michaels zaghafte Annäherung an seine Jugendliebe Annabelle und die Wiederaufnahme seiner Forschungsarbeiten fällt gegen die Verdichtung von soviel Schmerzen und Leid trotz der durchaus vorhandenen tragischen Aspekte etwas ab. Somit verwundert es nicht, daß Ulmen und Potente die meiste Zeit im Schatten ihrer Kollegen agieren.

Kurz bevor "Elementarteilchen" schließlich in die große Depression abgleitet, die in Anbetracht von Houellebecqs Zynismus für nur wenige noch genießbar wäre, zieht Roehler die Notbremse. Gerade in dem Moment, als der Film einen zerstörerischen Sog aufbaut, der in abgemildeter Form an Darren Aronofskys "Requiem für a Dream" erinnert, zaubert er unprätentiös eine hoffnungsstiftende, aber keinesfalls kitschige Auflösung herbei, die sich bis in die letzte Texteinblendung niederschlägt. Bei aller Tragik, allem Schlechten, Verkommenen und Unglück auf dieser Welt ist es vielleicht doch noch möglich, in der Zeit, die uns gegeben ist, ein glückliches, erfülltes Leben führen zu können.

Marcus Wessel

Elementarteilchen

ØØØØ


Deutschland 2005

113 Min.

Regie: Oskar Roehler

Darsteller: Moritz Bleibtreu, Christian Ulmen, Martina Gedeck u. a.

 

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