Kino_Wir sind was wir sind

Mühsames Menschenfressen

Schon drei Festivalpreise hat Jorge Michel Grau für sein Kinodebüt "Somos Lo Que Hay" - zu deutsch: "Wir sind was wir sind" - bekommen. Die Geschichte einer Kannibalenfamilie in Mexico City ist zähe, schwere Kost – aber total "arthouse".    26.09.2011

Ein alter Mann schleppt sich grunzend durch die aalglatten Fassaden einer kapitalistischen Großstadt. Es geht ihm nicht gut. Er röchelt vor sich hin, preßt seine Wurstfinger gegen eine Auslage mit hübschen Schaufensterpuppen und wird unwirsch davongejagt, schließlich bricht er zusammen, speibt schwarzen Schleim und krepiert.

Tadellos und wunderschön photographiert, jubiliert man innerlich - könnte der Anfang eines hervorragenden Zombie-Epidemie-Streifens sein. Aber die Vorfreude währt kurz. Wir befinden uns leider in der Kinoversion einer Soap-Opera über verhaltensauffällige Mexikaner, die sich einbilden, Menschenfleisch fressen zu müssen, um überleben zu können. Was da in der Sozialisierung falsch gelaufen ist, kann man nicht wirklich nachvollziehen, aber jetzt, da Papa Kannibale tot ist, steht die Familie - Mama, zwei halbwüchsige Söhne und eine lolitamäßig durchtriebene Nymphe von Tochter - ohne Lebensmittel da.

 

Wer wird jetzt frischen Homo sapiens heranschaffen? Natürlich der Älteste. Wem sonst sollte die Pflicht zufallen, das nicht näher erläuterte "Ritual" fortzuführen?

Dummerweise stellt er sich dabei ausnehmend blöd an. Also hilft der auf rätselhafte Weise zu gewalttätigen Ausbrüchen neigende Bruder mit. Gemeinsam schleppen sie eine Prostituierte daher. Das hat schon Papa Kannibale dauernd gemacht, obwohl es Mama nicht gepaßt hat. Deswegen prügelt die Alte die Hure kurzerhand tot, weigert sich aber, sie zu fressen.

Folglich wird der Kadaver wieder im Rotlichtmilieu abgeladen. Weil die Huren der Mama nicht schmecken wollen, sieht sich Cannibal Jr. nun woanders nach Opfern um, nämlich in der - wer hätte das geahnt? - Schwulenszene. Und so geht es dahin ...

 

Irgendwie kommt man als Europäer nicht ganz mit bei diesem seltsamen Spiel mit Symbolismen und Genrefilm-Elementeverdrehungen. Die vermutbare Sozialkritik stockt in unfertigen Sinnbildern und diffusen Bedeutungsschwangerschaften. Da läßt sich keine Konsistenz erkennen.

Am Ende bleibt nur eines sehr präsent: die Mühsal, die dieser Film dem Rezensenten beim Bewahren der Aufmerksamkeit bereitet.

 

 

      

Klaus Hübner

Wir sind was wir sind

Ø 1/2

Somos Lo Que Hay

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Mexiko 2010

90 Min.

 

Regie: Jorge Michel Grau

Darsteller: Francisco Barreiro, Alan Chávez, Paulina Gaitán u. a.

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