Print_Alan Glynn - Stoff

Gefährliches Gehirnfutter

Der irische Autor beschreibt in seinem ambitionierten Erstlingswerk eine neue Droge, die manchen Menschen zwangsweise verordnet werden sollte: MDT-48 fördert die Intelligenz - ein Thema, aus dem man viel mehr hätte machen können.    22.03.2007

Was das menschliche Gehirn leisten könnte, ist - zumindest theoretisch - unerschöpflich, heißt es. Dummerweise funktioniert unser Betriebssystem jedoch nur im abgesicherten Modus und nützt lediglich ein Zehntel seiner eigentlichen Kapazität. Wäre es nicht phantastisch, auch auf den Rest zugreifen zu können?

Diesen frommen Wunsch hegt auch Eddie Spinola, Hauptfigur in Alan Glynns Thriller "Stoff". Daher fackelt er nicht lange, als er von seinem Ex-Schwager Vernon in einer Bar eine Tablette angeboten bekommt, die seine grauen Zellen auf Vordermann bringen soll. Er kippt das Pulverl kurzerhand mit Hochprozentigem hinunter.

Der erfolglose Werbetexter aus New York hätte einen Intelligenzschub mit dazugehöriger Steigerung des Selbstbewußtseins wahrlich dringend nötig, da der übergewichtige und geschiedene Raunzer sich auch in Frauenfragen nicht einmal in der Nähe des Siegertreppchens befindet. Auf dem Heimweg fährt die Pille dann gleich richtig ein, und Eddie fühlt sich gut wie nie. Vernon hat ihm nicht viel über die Wunderdroge namens MDT-48 verraten - außer, daß sie vom Pharmakonzern, bei dem er arbeitet, hergestellt wird und nur ein exklusiver Kundenkreis in der Testphase ihre Vorteile genießen darf.

Zu Hause angelangt, ist Eddie dicht wie Nachbars Lumpi und räumt einmal voll überschüssiger Energie seine Wohnung auf. Er ordnet seine CDs alphabetisch, wäscht Geschirr und stellt die Möbel um. Anschließend liest er zu Recherchezwecken ein Buch fertig und schreibt den Text für einen Bildband zu Ende. Unentwegt muß sich Spinola beschäftigen und merkt, daß seine Auffassungsgabe grenzenlos zu sein scheint.

Ohne Grenzen ist nun auch seine Gier auf das Futter fürs Gehirn - und Eddie beschließt, zu Vernon zu gehen, um ihm noch ein paar Tabs abzunehmen. Doch der Ex-Schwager wird auch zum Ex-Dealer. Spinola findet Vernon mit einer zusätzlichen Öffnung im Schädel, die außer dem Tod keinen sichtbaren Nutzen zu haben scheint, auf der Couch in seinem noblen Appartement vor. Nachdem sich die Panikattacke in seinem ohnehin verwirrten Geist langsam verabschiedet hat, bemerkt nun auch Eddie, daß es höchste Zeit zum Gehen ist - aber nicht ohne den MDT-Vorrat im Wert von 250 großen Scheinen, der noch in der Wohnung liegt.

Im Verlauf der Geschichte benutzt Eddie die Droge jeden Tag, bei jeder sich bietenden Gelegenheit, um mit der neu gewonnenen Energie und Eloquenz in seinem Umfeld zu punkten. Auch die Geschäftemacherei an der Börse ist ihm nicht mehr fremd, und so versucht er, unendlich reich zu werden. Das schafft er auch beinahe - wären da nicht der russische Mafiaboß, der an seinen Drogenvorrat will, und die unsäglichen Nebenwirkungen von MDT-48 ...

Als der Psychologe Alfred Binet 1904 von der französischen Regierung beauftragt wurde, den ersten Intelligenztest aufzusetzen, um lernschwachen Kindern eine Form des Sonderunterrichts zu ermöglichen, konnte er nicht ahnen, daß spätere Generationen diese Tests dazu benützen würden, Menschen zu kategorisieren und dadurch ihr späteres Leben in punkto vorgeschriebener Berufswahl einschneidend zu beeinflussen. Wie seither mit dem Begriff der Intelligenz Schindluder betrieben wird, ist nicht zu übersehen; auch die Hauptfigur in Alan Glynns Roman verwendet ihr offenes Gehirn letztendlich nur dazu, hinter dem schnöden Mammon herzujagen. Viel mehr fällt dem Autor zum Thema "Nutzung der eigenen Ressourcen im Kopf" leider auch nicht ein. Daraus ergibt sich dann ein spannender Thriller, der sein Potential nicht ganz entfalten kann.

Schade für den Leser, aber egal für Alan Glynn. Der hat die Filmrechte an seinem "Stoff" nämlich schon nach Hollywood verkauft. Vielleicht wird ja sein nächstes Werk ausgeklügelter. Wie wär´s mit etwas MDT?

Nikolaus Triantafyllidis

Alan Glynn - Stoff

ØØØ

(The Dark Fields)


Ullstein (Berlin 2006)

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