Print_George V. Higgins im Doppelpack

Die Sprache der Mean Streets

Der Münchner Verlag Antje Kunstmann hat die Crime-Klassiker "Die Freunde von Eddie Coyle" und "Ich töte lieber sanft" neu aufgelegt. Martin Compart nimmt die beiden Thriller genau unter die Lupe.    28.02.2014

Eddie Coyle ist eine echte Ratte - ein kleiner Gangster, der ständig zwischen den Fronten hin- und herwieselt, um seine schmutzigen Geschäfte durchzuziehen. Mal dient er als Polizeispitzel, mal dreht er mit den Freunden ein Ding. Ganz spezielle Freunde sind das: Bankräuber, Waffenhändler und kleine Ganoven wie Eddie selbst. Bei seinem Doppelspiel muß er schwer aufpassen. Und dann spitzt sich die Situation so zu, daß man von ihm verlangt, einen seiner Freunde ans Messer zu liefern. Eddie hat nur mehr die Wahl, wen er nun verraten soll ...

Eddie lebt in der Bostoner Combat-Zone, deren Kriegsberichterstatter George V. Higgins war. Mit seinem Debüt, Die Freunde von Eddie Coyle, verpaßte er dem Crime-Genre 1971 eine neue Dosis literarischen Realismus. Selbst Norman Mailer war fassungslos über die Qualität dieses Erstlings, der 1985 von einer Buchhändlervereinigung zu einem der 25 wichtigsten Romane des 20. Jahrhunderts gewählt wurde. Ross Macdonald nannte ihn das "kraftvollste und beängstigendste Buch, das ich dieses Jahr gelesen habe". Über Nacht wurde Higgins zum neuen Stern am Noir-Himmel.

"Über Nacht? War eine verdammt lange Nacht, die 17 Jahre gedauert hat und in der ich bereits 14 Romane geschrieben hatte, die alle keinen Verleger fanden", kommentierte Higgins seinen Erfolg. "Darüber bin ich heute froh." Sein damaliger Agent hatte gesagt, Friends of Eddie Coyle sei absolut unverkäuflich, und hatte ihn von seiner Klientenliste gestrichen. Nachdem der Verlag Alfred Knopf (der schon Hammett, Chandler und andere Big Shots herausgebracht hat) den Roman für 2000 Dollar Vorschuß gekauft hatte, verbrannte Higgins seine alten Romanmanuskripte.

 

 

Zu schreiben begonnen hatte das verwöhnte Einzelkind eines Lehrerehepaars schon früh. Seinen ersten Roman verfaßte George Vincent Higgins mit 15 Jahren. Der Autor, der im proletarischen Brockton, Massachusetts geboren und aufgewachsen war, hatte die irisch-katholische Arbeiterkultur verinnerlicht, der er materiell zwar entkommen konnte, die aber trotz einer snobistischen Haltung seine Literatur prägte. Er studierte unter anderem an der renommierten Universität Stanford. Vorübergehende Untauglichkeit bewahrte ihn vor Vietnam.

Bevor er Anwalt wurde, arbeitete Higgins als Kriminalreporter in Providence und Springfield, wo er die Unterwelt der Ostküste kennenlernte. Eines Tages war er als Gerichtsreporter bei einem Mafia-Prozeß: "Ich hatte das Gefühl, daß diese Anwälte viel mehr Spaß hatten als ich. Also studierte ich Jura und wurde 1967 Ankläger im Büro der Staatsanwaltschaft." Später wurde er stellvertretender Staatsanwalt, dann niedergelassener Anwalt, der so illustre Charaktere wie den Watergate-Einbrecher G. Gordon Liddy und den Black-Panther-Führer Eldridge Cleaver verteidigte. 1983 beendete er seine Anwaltskarriere, um nur noch zu schreiben und am Boston College zu unterrichten. Aus diesen Schreibkursen entstand 1990 seine originelle Schreibfibel "On Writing" - laut Nick Tosches, der ein Fan von ihm ist, eines der schlechtesten Bücher über das Handwerk des Schreibens.

Der moderne Gangsterroman verdankt Higgins mehr als jedem anderen Autoren. Elmore Leonard bezeichnete ihn als den Meister, von dem er alles gelernt hat. Higgins selbst nannte den heute vergessenen John O´Hara als seinen wichtigsten Einfluß.

George V. Higgins hielt sich fast nie an die Konventionen des Gangsterromans, die am Ende das große Shootout à la Richard Stark oder W. R. Burnett fordern. Es geht bei ihm auch nie um den einen, großen Coup, sondern um das tägliche Überleben auf der Straße. Er entkleidete den Unterweltsroman aller glamourösen Aspekte und gab den Gangstern ihre eigene Sprache, die er aus Protokollen und Gesprächen destillierte, um daraus Kunst zu machen.

Seine Figuren leben in einer Hobbes´schen Welt, in der jeder jedes Wolf ist und nur die eigenen Interessen zählen. In diesem Kosmos geht es ausschließlich um Ausbeutung und Zweckgemeinschaften. Wie schon Meyer Lansky wußte: Kriminalität ist die reinste Form der Marktwirtschaft. Bei Higgins durchzieht Korruption jede gesellschaftliche Schicht, und Taktiken und Strategien der Gangster sind dieselben wie die der Politiker oder Polizisten. Higgins zeigt eine paranoide Gesellschaft, die von Kriminellen aller Art belagert und geplündert wird, weil der Kapitalismus mit dem Mittel der Korruption alle sozialen Felder kolonialisiert hat. Seine Politiker, Anwälte, Cops und Gangster überleben (oder auch nicht) als Choreographen des zivilisatorischen Verfalls.

Das Personal besteht aus kleinen und größeren Gaunern, Killern, Bürokraten, schmutzigen Bullen, Anwälten und Politikern, abgenutzt vom Leben, aber voller Gier. Der Heroismus der unteren Chargen besteht darin, über den Tag zu kommen. Auch die Cops sind Gefangene des Systems und nicht ihre Wärter. Es ist eine männliche Welt, in der Frauen bestenfalls emotionale Konsumgüter sind. Sie spielen kaum eine Rolle in dieser maskulinen Umgebung, die ihnen nur die üblichen Rollen zugesteht. Trotzdem gelingen Higgins immer wieder berührende Momente, die das traditionelle Frauenbild absurd erscheinen lassen. Er moralisiert nicht, indem er seine Verbrecher be- oder gar aburteilt, und er verteidigt sie nicht, indem er sie erklärt. Er läßt sie sich einfach um ihre miesen, kleinen Leben quatschen.

Die große Stärke seiner besten Bücher ist leider auch die größte Schwäche seiner weniger gelungenen: der Dialog. Niemand schrieb Dialoge wie George V. Higgins, der 1999 mit nur 59 Jahren starb. Er konnte eine ganze Geschichte fast völlig in Dialogen erzählen, die die Story vorantreiben und gleichzeitig die Personen charakterisieren. Sein behavioristischer Stil leitet die Realität davon ab, was die Leute reden, nicht aus Beschreibungen ihres Innenlebens. Der Leser muß die Glaubwürdigkeit der Aussagen selber einschätzen. Die Charakterisierung seiner Figuren entsprießt aus dem, was sie sagen und wie sie es sagen. Gerade das hat sich Elmore Leonard von Higgins abgeschaut und oft effektiver genutzt. "Higgins zeigte mir, wie man in eine Szene geht, ohne Zeit zu verlieren, ohne lange zu erklären, wer die Charaktere sind und wie sie aussehen."

Die meisten von Higgins´ 27 Romanen spielen in Boston, einige auch in Washington. Die Darstellung der Stadt unterscheidet sich gewaltig von der beim gleichzeitig, aber viel erfolgreicher schreibenden Bostoner Kollegen Robert B. Parker. Einen Heilsbringer wie Parkers Privatdetektiv Spenser sucht man in den "Mean Streets" von Higgins vergebens. Einige Kritiker klebten Higgins daher das Etikett "der Balzac Bostons" an.

 

In seinen Polit-Thrillern, wie "A Choice Of Enemies", "Imposters" oder "Victories" verkündet Higgins immer wieder seine psychologischen Systemanalysen: Politiker schaffen es nicht an die Spitze, weil sie anderen Gefallen erweisen. Sie schaffen es, indem sie andere dazu bringen, ihnen Gefallen zu tun. Sie sind genauso manipulativ wie die Gangster seiner Unterweltgeschichten.

Vom Erfolg des Erstlings konnte sich der Autor nie erholen. Er schaffte es nicht, sich aus dem langen Schatten von "Eddie Coyle" zu lösen: "Ich habe die Schnauze voll von Rezensionen, die lauten: Natürlich gibt es bei Higgins keinen der üblichen Plots, aber die Dialoge sind wunderbar." Higgins war stets unzufrieden mit seiner Rezeption und den Verkaufszahlen in den USA (obwohl er durchschnittlich von jedem neuen Buch etwa 30.000 Hardcover umsetzte).

In zu vielen Romanen verlor er die Kontrolle über die Geschichten, und der Erzähler war nur noch ein Moderator mäandernder Mono- und Dialoge, die den Leser ermüden. Seine größte Anerkennung fand er in Großbritannien; nur dort erschien auch sein einziger Kurzgeschichtenband. In Deutschland versuchten die Verlage Hoffmann & Campe und Goldmann - bisher leider vergeblich -, Higgins an die deutsche Leserschaft zu bringen. Sein neben "Eddie Coyle" bester Roman, der Polit-Thriller "A Choice Of Enemys", wurde noch nicht ins Deutsche übersetzt. Es ist zu hoffen, daß der neue deutsche Verlag einen langen Atem und mehr Erfolg hat. Für die Masse der deutschen Krimileser (vorwiegend anspruchslose Frauen), die debilen Psychoquark, sozialdemokratisch-depressive Skandinavier oder gestammelte Provinzkrimis bevorzugen, taugt Higgins natürlich nicht als Lektüre. Aber vielleicht gibt es ja noch ein paar tausend intelligente und literarisch verwöhnte Leser, die das verlegerische Risiko rechtfertigen.

Aus verständlichen Gründen begann der Verlag Antje Kunstmann die neue Higgins-Edition mit dem dritten Roman, Ich töte lieber sanft ("Cogan´s Trade", 1974), der 2012 mit Brad Pitt verfilmt wurde. Die grandiose Verfilmung von "The Friends of Eddie Coyle" von Peter Yates mit Robert Mitchum, ein seltener Glücksfall für einen Autor, ist bereits ein Klassiker. Higgins hat über Elmore Leonard nicht nur zeitgenössische Noir-Autoren beeinflußt, sondern auch Filmemacher wie Quentin Tarantino. Und eine TV-Serie wie "Die Sopranos", die dialoglastig die Banalität der systemimmanenten organisierten Kriminalität thematisierte, wäre ohne Higgins nicht denkbar gewesen.

Higgins gehört zu den Autoren wie Robert Stone, James Crumley, Newton Thornburg oder Edward Bunker, die für den amerikanischen Noir-Roman in den 1970er Jahren die Traumata des Vietnamkrieges aufarbeiteten und neue Wege für das Genre aufzeigten. Wie die Pulp-Autoren während der Depression präsentierten diese Schriftsteller schonungslos eine durch und durch korrupte Welt. Higgins & Co. beschrieben den Kater nach der Aufbruchsstimmung der 1960er. Der Sixties-Traum einer "New Society" war ausgeträumt. Und bekanntlich kam es noch schlimmer: Seit Reagan wurden systematisch alle rudimentären demokratischen Errungenschaften der Roosevelt-Ära für den Vorteil einer blutrünstigen Oligarchie auf dem Altar des absoluten Profitstrebens geopfert. So gesehen ist Noir-Kultur die erste Form, die nicht national definiert wird, sondern - Länder- und Sprachgrenzen transzendierend - durch das übergreifende wirtschaftliche System. Noir-Literatur ist die soziopolitische Beschreibung der Entfremdung des Individuums von den Strukturen des Kapitalismus.

Martin Compart

George V. Higgins - Die Freunde von Eddie Coyle

(The Friends of Eddie Coyle)

Leserbewertung: (bewerten)

Verlag Antje Kunstmann (D 2014)

Links:

George V. Higgins - Ich töte lieber sanft

(Cogan´s Trade)

Leserbewertung: (bewerten)

Verlag Antje Kunstmann (D 2014)

Links:

Kommentare_

Stories
Western - damals und heute

Im Zeichen des Sechsschüssers

In den 80ern und 90ern erschienen in der "Heyne-Filmbibliothek" einige dringend lesenswerte Werke rund um Filmemacher, Schauspieler und Genres. Einige davon gehen auf das Konto der deutschen Western-Koryphäe Thomas Jeier. Martin Compart sprach mit ihm über das uramerikanische Genre.  

Stories
Charles-Bronson-Special

Treffen der Generationen

Er war weit mehr als ein Mann, der nur Rot sieht. Martin Compart sprach mit Filmliebhaber Oliver Nöding über Charles Bronson - einen Schauspieler, der keinesfalls in Vergessenheit geraten sollte und immer noch eine Entdeckung wert ist.
 

Stories
TV-Serien & Ideologien

A Game of Pawns

Dienen Qualitätsserien noch der gehobenen Unterhaltung oder längst der ideologischen Indoktrination? Und was haben deutsche TV-Produktionen damit zu tun? MiC liefert dazu einen Tagebucheintrag - knapp nach den Iden des März.  

Stories
Flashman/Interview Bernd Kübler

Höret seine Heldentaten!

Hätten wir im EVOLVER eine Ruhmeshalle für fiktive Personen aus der Populärkultur, wäre George MacDonald Frasers Flashman ein eigenes Podest sicher. Martin Compart sprach mit Herausgeber Bernd Kübler über die Hörbuch-Adaptionen von Flashys Abenteuern.  

Stories
Philip Kerr - Die Bernie-Gunther-Serie

Im Pesthauch der Nazis

Kennen Sie den PI und ehemaligen Kriminaloberkommissar Bernhard Gunther, der im Berlin der 30er und Folgejahre für Recht und Ordnung sorgt? Nein? Dann ist es Zeit, daß Sie der Reihe des britischen Krimiautors Philip Kerr Ihre Aufmerksamkeit schenken. Martin Compart gibt fachgerechte Starthilfe.  

Stories
Zum Gedenken an Jack Vance

Der Weltendenker baut uns ein Traumschloß

Werner Fuchs gedenkt eines Science-Fiction- und Fantasy-Autors, dessen Imagination in den Genres unvergleichbar ist. Nach dieser Lektüre gibt es keine Entschuldigung mehr, die Werke des US-Schriftstellers Jack Vance nicht zu lesen oder neu zu entdecken.