Stories_Hinterwälder, Kannibalen und Monster #1

Walden einmal anders

Aufmerksame Studenten der amerikanischen Populärkultur wissen spätestens seit Tobe Hoopers "The Texas Chainsaw Massacre" und John Boormans "Deliverance", was sie im Hinterland der Vereinigten Staaten erwartet. Martin Compart packt das Banjo ein, schlüpft in die Regenjacke und erkundet die Ursprünge des Backwoods-Genres.    17.06.2013

"Der Gruselschauder ist masochistisch und letzten Endes weiblich. In ihm unterwirft sich die Phantasie einer überwältigenden Übermacht ... Der Horrorfilm entfesselt die vom Christentum unterdrückten Mächte - das Böse und das Barbarische der Natur. Horrorfilme sind Rituale in einem heidnischen Gottesdienst."

Camille Paglia: "Die Masken der Sexualität"

 

1. Zum Genre

 

Das Backwoods-Genre ist nicht ausschließlich ein Subgenre der Weird Fiction oder des Horrors. Horror dominiert das Genre, aber die Topoi des Backwoods-Horrors lassen sich auch mit anderen verbinden (siehe auch "Wurzeln"). Das wohl herausragendste Werk, James Dickeys Deliverance, ist schwerlich dem Horrorgenre zuzuordnen. Die Romane und Filme, in denen es um die Konfrontation zwischen städtischen Eindringlingen und Rednecks geht, gehören eher in den Bereich Thriller. Auf den ersten Blick geht es in Backwoods-Werken um die völlige Entfremdung des städtischen Individuums von der Natur. Aber es steckt doch etwas mehr dahinter - nämlich eine Illustration zum anthropologischen Pessimismus.

 

 

2. Die Wurzeln

 

Das Backwoods-Genre verdankt einiges dem "Lost Race"- oder "Lost Valley"-Motiv. Dieses wurde prominent bis in die 1950er Jahre vornehmlich von der Fantasy- und Abenteuerliteratur eingesetzt. Autoren, die es besonders häufig und effektiv nutzten, waren Henry Rider Haggard, Edgar Rice Burroughs und Abraham Merritt. Burroughs verwendete das "Lost Race"-Motiv gern und oft in seinen Tarzan-Romanen. Immer wieder entdeckt der Herr des Dschungels bei seinen Streifzügen vergessene oder der Zivilisation unbekannte Täler, in denen bestimmte Kulturen isoliert von der Außenwelt existieren oder überlebt haben. Tarzan oder auch Rider Haggards Helden (wie Allan Quatermain) finden aber meist vergleichsweise Hochkulturen. Ob Mayas, Wikinger, Römer oder Kreuzritter, Burroughs läßt nichts aus. Doch all die edlen Helden treffen nie - anders als die in den Backwoods-Thrillern - auf Redneck-Kannibalen.

Auch aus den "Post Doomsday"-Geschichten der Science Fiction übernimmt das Backwoods-Genre etwas: nämlich das Konzept, daß keine bürgerlichen Normen mehr existieren oder durchsetzbar sind. Diese Stories beschreiben häufig eine Welt nach dem Zusammenbruch, in der wir wieder in die Barbarei zurückgefallen sind; ein primitiver Zustand, der allerdings noch über die technischen Möglichkeiten der zerstörten Zivilisation verfügt (wie es etwa in den "Mad Max"-Filmen gezeigt wird).

In den Backwoods-Werken verbinden sich Weird Fiction oder Horror mit dem Thriller zum Terror-Movie oder zur Terror-Novel. Die Bedrohung muß dabei nicht übernatürlich sein, also von Horror-, SF- oder Fantasy-Elementen getragen. In einigen der besten Backwoods-Thriller (abgesehen von "Deliverance" etwa Open Season von David Osborn sowie einigen Ketchum- und Lansdale-Romanen) geht die Todesgefahr von degenerierten Mitmenschen aus, die dieselbe Mentalität wie Wirtschaftsbosse und Politiker teilen: maßlose Gier nach Befriedigung ihrer perversen Bedürfnisse durch die Ausübung überlegener Gewalt.

Ein Aspekt der Faszination, die vom Terror-Genre ausgeht, ist das Aufzeigen der Brüchigkeit unserer Zivilisation und die Ohnmacht gegenüber brutaler Gewalt, sei sie physisch, psychisch, ökonomisch (Bentley Little) oder politisch. Es spiegelt unsere Realität wieder - erleben wir doch gerade, wie unter dem Begriff "Globalisierung" auf gemeinste Weise die Gewalt privilegierter Cliquen gegenüber Mensch und Natur ausgeübt wird. Die vergiftete Natur wird gern als Erklärung für die Degeneriertheit der Hinterwäldler angeboten.

 

 

3. Die Insel

 

Schutz- und hilflos in einer fremden Umgebung Kräften ausgeliefert zu sein, die man nicht kontrollieren kann, ist eine der stärksten Ängste, die man mobilisieren kann. In unserer urbanen Zivilisation werden diese Ängste besonders intensiv wahrgenommen, wenn unzivilisierte Regionen zum Schauplatz werden. Dies gilt besonders für Kannibalen- und Backwoods-Filme.

Die als Genre definierten Kannibalenfilme spielen an entlegenen Orten, zu denen die Figuren bewußt reisen und deren Gefahren im vorhinein bekannt sind - zumindest zum Teil. Daraus hat sich eine popkulturelle Spielart gebildet, die man vielleicht als "Insel-Thriller" bezeichnen könnte. Ihre Topoi lassen sich zum Großteil auf zwei Klassiker zurückführen: Richard Connells Kurzgeschichte The Most Dangerous Game (1924), deren erfolgreiche Verfilmung von 1932 stilbildend war; hier geht es darum, daß Menschen auf einer isolierten Insel als Jagdwild herhalten müssen. William Goldmans Roman Lord of the Flies (1954) wiederum erzählt von gestrandeten Jugendlichen, die zwei sich bekämpfende Gruppen bilden. Goldings Subtext ist für das gesamte Genre bestimmend: Gewaltbereitschaft ist dem Menschen angeboren - und ohne zivilisatorische Regeln herrscht das Gesetz des Stärkeren.

Moderne Varianten sind Richard Laymons Island (1991) oder Brian Keenes Castaways (2009).

 

4. Erfolg

 

Der anhaltende Erfolg des Backwoods-Genres geht wohl auf zwei Filme zurück: John Boormans Adaption von Dickeys "Deliverance" und Tobe Hoopers The Texas Chainsaw Massacre (1974). Dieses relativ kostengünstig zu produzierende Filmgenre explodierte geradezu und wurde besonders von den 1970er Jahren bis in die Neunziger zu B-Pictures verwurstet. Schriftsteller wie Jack Ketchum, Richard Laymon und Joe R. Lansdale popularisierten den Backwoods-Thriller seit den 80er Jahren als literarische Form, die bis heute bedient wird und sich beständiger Beliebtheit erfreut.

Vielleicht ist die These etwas gewagt, aber man könnte auch Robert Blochs Ed-Gein-Interpretation Psycho ebenso als Backwoods-Thriller wie als Serienkillerroman auffassen. Einige Theoretiker rechnen auch Algernon Blackwoods Natur-Horrorstories The Willows (1907) oder The Wendigo (1910) dem Genre zu.

 

 

5. Stadt gegen Land

 

Im Backwoods-Genre kommen Gefahr und Horror unerwartet, und nichts weist auf künftige Gefährdungen hin. Die Opfer/Protagonisten begeben sich im Hochgefühl zivilisatorischer Überlegenheit an diese Orte, deren Dynamik sie weder kennen noch einzuschätzen wissen. Die Backwoods liegen hinter unseren urban kultivierten Plätzen, nicht weit entfernt von der vertrauten Umgebung. Aber einmal falsch abgebogen - und schon sieht man sich einem Terror ausgesetzt, dem man mit zivilisatorischen Mitteln nicht begegnen kann.

Ein Topos ist der Städter, der angesichts dieser Gefahr alle Hemmungen und Konditionierungen abwerfen muß, um zu überleben. Die bekannten Verteidigungstechnologien, vom Auto bis zur Schußwaffe, werden im Genre meistens außer Kraft gesetzt oder dienen als eine Art Gral, den die Protagonisten zu erreichen trachten und oft in letzter Sekunde zur finalen Lösung nutzen. Letztlich überwiegt aber das Mißtrauen gegenüber technischen Lösungen (ist es nicht oft der Fortschritt, der durch Umweltvergiftung aus debilen Hillybillys völlig durchgeknallte Kannibalen macht? - wie etwa in Wrong Turn 2). Erst wenn der Städter alle Schichten der Zivilisation abgeschält hat und zur bösartigen Kreatur wird, hat er eine Chance, im ruralen Inferno zu bestehen.

 

"Und er konnte es tun - er konnte es wirklich tun. In dieser Nacht hatte er bereits drei oder vier dieser Leute getötet. Warum nicht zwei mehr? ...
Er hatte Angst.
Angst vor dem Vergewaltiger und Mörder, der in seiner Haut lauerte.”

(Richard Laymon: "In den finsteren Wäldern", Festa, 2011.

 

Je mehr die Industrialisierung fortschreitet, umso intensiver wird auch eine Urbanisierung (die Zuwanderung in die Großstädte der Dritten Welt, was zu unfaßbaren Slums führt), deren zivilisatorischer Anspruch längst umgekippt ist. Für den Städter ist der Landbewohner inzwischen mental einer fremden Kultur zugehörig, sein Wertesystem kaum nachvollziehbar. Denken wir nur an die gerne im TV vorgeführten Jugendlichen, die kein Gemüse mehr identifizieren können. Der Landbewohner, so er denn nicht dem Flötenspiel der industriellen Rattenfänger folgt, hat kaum noch Bezüge zu den Stadtbewohnern. Sein Leben hat einen anderen Rhythmus, der stärker von den Unwägbarkeiten der Natur abhängig ist. Inzwischen sind verslumte Vororte und verslumte Stadteile neben dem Land auch zu Backwoods geworden (so gesehen könnte man auch Walter Hills "The Warriors" als einen urbanen Backwoods-Thriller werten). Die Förderung landwirtschaftlicher Großbetriebe stärkt nicht humanitären Fortschritt, sondern brutalisiert auch die ökonomische Barbarei (Stichwort Massentierhaltung).

 

 

6. Orte

 

Das bedrohliche Hinterland mit seinen sinistren Gebäuden ist kein wirklich neues Thema der Weird Fiction. Wenn man denn will, könnte man auch den ersten Teil von Bram Stokers Dracula mit Jonathan Harkers Reise in die Karpaten zu Draculas Schloß als Backwoods-Thrill interpretieren.

Unheimliche Orte, die man lieber nicht besuchen sollte, gab es in der Weird Fiction und in der Gothic Novel immer. Man wird gewarnt, dort nicht hinzufahren - wie etwa der Erzähler in Lovecrafts Shadows Over Innsmouth. Die Bedrohlichkeit dieser Orte ist zwar nicht in all ihren Dimensionen bekannt, aber es besteht vorab soviel Wissen darüber, daß man erahnen kann, warum man sie besser meiden sollte. Es sind die Naivität oder das übersteigerte Selbstbewußtsein der Protagonisten dieser Weird Fiction, die sie aller Warnungen zum trotz diese "unheiligen" Orte aufsuchen läßt.

Ganz anders nähert man sich den Wäldern oder Dörfern der Backwoods-Thriller. In sie fährt oder wandert man hinein, ohne die geringste Vorsicht oder einen Hauch von Wissen um ihre Existenz. In der Regel will man diese nicht als Orte des Schreckens kartographierten Regionen nur durchqueren, auf dem Weg von einem bekannten urbanen Platz zum anderen. Man bemerkt gar nicht die Grenze, die man überschreitet, wenn man die vertraute Welt verläßt, um in die rurale Barbarei zu geraten. Und dann platzt ein Reifen, oder man biegt falsch ab, oder man will in diesem merkwürdigen Ort nur schnell etwas essen ... Schlagartig wird man mit einer archaischen Welt konfrontiert, in der alle erlernten Fähigkeiten nichts zur Überlebenssicherung beitragen. Auch die mitgebrachte Technik funktioniert nicht ("Ich kriege kein Netz"). in dieser Welt verknüpft sich das Unheimliche nicht domestizierter Natur mit genetischen Katastrophen der eigenen Spezies. In der ungezähmten Wildnis tobt der Abschaum Pans in unkontrollierter Macht.

Zivilisatorische Normen haben weder Sinn noch Durchsetzungskraft. Die Bewohner der Backwoods-Schauplätze huldigen undurchschaubaren Riten, Stammesregeln (wenn überhaupt), die nur für sie gelten. Der Fremde steht außerhalb jeder positiven Sanktion. Sie meiden Kontakte mit Menschen außerhalb ihrer inzestuösen Gruppe, ausgenommen als Jagd-und Ritualopfer, Nahrung oder Sklaven. Fremde sind Nutztiere oder Spielzeuge für ihre erschreckenden Vorlieben. Ob die Hinterwäldler durch Abwesenheit von Geschichte, Umweltverschmutzung oder sonstwas degeneriert sind, ist sekundär. Primär sind sie aggressiv böse, ohne zivilisatorische Kruste. Sie sind weniger das, was wir vielleicht einmal waren, als das was wir sein zu können fürchten. Sie verkörpern nicht die ungehinderte Natur, sondern die entartete Gattung. Sie sind das Gegenteil von Rousseaus edlem Wilden - eher schon der Beweis für Freuds These, daß wir alle Mörder und Kinder Kains sind. Sie weisen darauf hin, was passieren kann, wenn unsere zivilisatorischen Lichter ausgehen und wir im Dunkel der entsolidarisierten Gesellschaft versinken: Atomisiert in kleinen Rotten, die nur sich selbst verpflichtet sind, gibt es beim Überlebenskampf keine Gnade. Töten ist genau so selbstverständlich wie essen, quälen so genußvoll wie Sex. Die Backwoods-Bewohner werden mental gerne auf einer Stufe mit nicht sozialisierten Kindern dargestellt. Musterbeispiel sind einmal mehr die "Wrong Turn"-Filme mit ihren infantilen Menschenfressern. Wie diese den Fliegen die Flügel ausreißen, so reißen sie auch den Fremden vergnügt Arme und Beine aus dem Körper.

Ein Subtext des Genres ist: Ohne urbane Zivilisation ist der Mensch barbarisch und böse. Dieser anthropologische Pessimismus ist seit den 1980ern (Reagan, Thatcher, Kohl und der Raubtierkapitalismus der Neo-Cons) als Genre-Subtext aktuell und attraktiv. Jeder spürt ja den bevorstehenden Zusammenbruch des kapitalistischen Lemmingsystems, der alle erreichten zivilisatorischen Errungenschaften zerbröseln wird.

Und dann sind wir alle in den Backwoods.

 

Fortsetzung folgt ...

Martin Compart

Ein Männlein steht im Walde ...

Print-Tips/Special: Backwoods


Anläßlich seiner Aufarbeitung des amerikanischen Hinterlands und dessen fiktiver Bewohner hat es sich Martin Compart am Lagerfeuer bequem gemacht. Die folgenden Buchtips gewähren einen ersten Einblick ins Backwoods-Subgenre. 

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