Stories_Filmfest München 2005 II

Am Puls des Grauens

Das Münchner Filmfest ehrte im heurigen Japan-Schwerpunkt Kiyoshi Kurosawa mit einer Retrospektive. Zu sehen gab es fast alle seine Werke aus den vergangenen acht Jahren.    27.07.2005

Dem japanischen Regisseur Kiyoshi Kurosawa blieb trotz einiger Festival-Erfolge bis heute der große Durchbruch im deutschsprachigen Raum verwehrt. Seine häufig mit Genremotiven spielenden Filme zeichnen sich durch ihre zutiefst menschliche Sichtweise und einen formal strengen, aber trotzdem zugänglichen Stil aus. Kurosawa gelingt es dabei immer wieder, eine Brücke zwischen solide gemachtem Unterhaltungskino und Autorenfilm zu schlagen.

Bei den ältesten der heuer auf dem Münchner Filmfest gezeigten Werke handelte es sich um die "back to back" gedrehten Yakuza-Filme Eyes of the Spider und Serpent´s Path (beide 1998), die sich auf unterschiedliche Weise mit dem Motiv der Rache auseinandersetzen. Während "Eyes of the Spider" durch seine unaufgeregte, teils humoristische Darstellung des Gangster-Alltags besticht, fällt der weitaus düsterere "Serpent’s Path" hauptsächlich durch detaillierte, fast klinisch abgefilmte Folterszenen auf. Ähnlich kalt und hoffnungslos geht es auch in Kurosawas bisher bekanntestem Werk Cure (1997) zu, einem subtilen Horrorfilm über einen Serienmörder mit hypnotischen Fähigkeiten, das es sogar schon ins Abendprogramm von ARTE geschafft hat.

Künstlerische Vielseitigkeit stellte der japanische Filmemacher auch mit seinen nächsten Filmen, dem Familiendrama License to Live (1998) und dem völlig unklassifizierbaren Charisma (1999), unter Beweis. "Charisma", einer seiner vielschichtigsten und faszinierendsten Filme, erzählt hauptsächlich von einem Polizisten in der Krise, der sich aufopferungsvoll um einen geheimnisvollen Baum kümmert. Was sich jedoch aus dieser Ausgangssituation alles entwickelt, läßt sich nur schwer in Worte fassen und sollte nach Möglichkeit selbst erfahren werden.

 

Bei einem seiner Publikumsgespräche ließ der Regisseur verlauten, daß es ihm grundsätzlich egal sei, ob das Publikum seine Horrorfilme gruselig finde oder nicht. Wer mit dem Facettenreichtum der Werke vertraut ist, weiß diese Aussage richtig einzuschätzen: Bei Kurosawa gehen Bearbeitungen von Genremotiven immer weit über das jeweilige Genre hinaus. Ein gutes Beispiel hierfür ist Seance (2000), der wie ein atmosphärischer Horrorfilm mit übernatürlicher Komponente beginnt, sich mit der Zeit aber als Ehedrama entpuppt. Junko besitzt hellseherische Fähigkeiten, weshalb ihr die Ausübung eines Berufs unmöglich scheint. Von ihrem Mann hat sie sich innerlich schon lange entfernt. Als die Polizei sie wegen einer Kindesentführung um Hilfe bittet, versucht sie daraus Profit zu schlagen und gerät in eine immer auswegslosere Situation. Der technisch sehr bescheidene und fast ausschließlich in der dunklen Wohnung des Paares angesiedelte Film entfernt sich mehr und mehr von der Gruselhandlung und zeigt letztlich das spannende Psychogramm eines entfremdeten Ehepaares.

Thematisch sehr ähnlich verläuft House of Bugs (2005), der in München uraufgeführte erste Teil einer Horrorminiserie für das japanische Fernsehen. Inspiriert von Kafkas berühmter Erzählung "Die Verwandlung" steht hier eine Ehekrise im Mittelpunkt, bei der die Frau sich eines Tages in ihr Zimmer zurückzieht und in einen Käfer verwandelt. "House of Bugs" erzählt dieselbe Geschichte in verschiedenen Versionen und überläßt es letztendlich dem Zuschauer, welcher Variante er Glauben schenken will. Zwar sieht man der Episode äußerlich durchaus an, daß sie fürs Fernsehen gemacht wurde, inhaltlich und dramaturgisch bewegt sie sich jedoch weit über TV-Durchschnitt. Interessant dabei ist auch, daß in Kurosawas Horrorfilmen übernatürliche Motive nie von einer unsichtbaren Macht ausgelöst werden, sondern immer in der Psyche der Protagonisten begründet liegen.

 

Kurosawas ausgeprägtes Interesse für das menschliche Innenleben sorgt auch dafür, daß isolierte oder einsame Menschen in seinen Filmen oft wichtige Rollen spielen. Pulse (2001) - einer der bedrohlichsten Streifen der jüngeren Vergangenheit - erzählt beispielsweise von einer geheimnisvollen Website, deren jugendliche Besucher zunächst jeglicher Emotion beraubt werden und schließlich als Geister spurlos verschwinden. Das einzige, was von ihnen übrigbleibt, ist ein mysteriöser Schatten an der Wand.

Geistererscheinungen sind übrigens in nahezu jedem Film von Kurosawa anzutreffen. Sie haben in der japanischen Kultur eine weitaus größere Tradition als im Westen, was sich sowohl in No- und Kabuki-Stücken als auch in kommerziellen Horrorfilmen wie "Ringu" oder "The Grudge" bemerkbar macht. Dabei geht es Kurosawa allerdings weniger um den Schockeffekt als um die bildhaft verdeutlichte Präsenz Verstorbener über ihren Tod hinaus. Was "Pulse" vor allem auszeichnet, ist seine unheimliche Atmosphäre, die den Zuschauer wie schon bei "Cure" und "Seance" in einen konzentrierten und tranceartigen Zustand versetzt.

Das halb diesseitige, halb jenseitige Weiterleben Verstorbener spielt auch im Drama Bright Future (2003) eine bedeutende Rolle. Der Film erinnert in seiner Thematisierung des Lebens desillusionierter Jugendlicher an "License to Live", ist aber durch den Einsatz bearbeiteter Videobilder und digitaler Effekte visuell vielschichtiger. Zur Handlung: Die beiden Freunde Yuji und Mamoru sind unzertrennlich. Sie arbeiten zusammen in einer Fabrik und beschäftigen sich in ihrer Freizeit gern mit Mamorus Haustier, einer Qualle mit tödlichem Gift. Als Mamoru eines Nachts den gemeinsamen Vorgesetzten tötet, landet er im Gefängnis, und die Wege der beiden Freunde trennen sich. Yuji kommt mit dem Alleinsein nicht klar und kompensiert den Verlust seines Freundes, indem er sich mit Mamorus Vater anfreundet und sich der Qualle widmet. Wie so oft bei Kurosawa ist die Familie hier nur noch ein Trümmerhaufen; die Figuren sind auf der Suche nach neuen sozialen Kontakten, die ihnen Halt im Leben bieten. "Bright Future" ist zwar streckenweise etwas esoterisch, kann aber durch sein surreales Szenario doch überzeugen.

 

Daß nicht jeder Kurosawa-Film ein Volltreffer ist, bewies die jüngste Spielfilmarbeit des Regisseurs, Doppelgänger (2003). In diesem wilden Stilmix aus Horrorfilm, Psychodrama und überdrehter Komödie wird der introvertierte Wissenschaftler Hayasaki, dargestellt von Kurosawas Lieblingsschauspieler Koji Yakusho, eines Tages mit seinem bösen Ebenbild konfrontiert. Der neue Begleiter bereitet ihm zunächst nur Scherereien, doch mit der Zeit lernt Hayasaki ihn für seine eigenen Zwecke zu instrumentalisieren und sich ein paar Scheiben von dessen rücksichtslosem Egoismus abzuschneiden. In diesem über weite Strecken unterhaltsamen Werk übertreibt Kurosawa mit Genrewechseln und technischer Virtuosität ein wenig und erzielt dadurch eine uneinheitliche Wirkung.

Trotzdem: Wer nicht die Chance hat, Kurosawas erstaunliche Filme bei Festivals im Kinosaal zu sehen, sollte unbedingt auf bereits vorhandene DVD-Veröffentlichungen zurückgreifen - oder abwarten, bis die Remake-Industrie Hollywoods den Regisseur entdeckt. In Zeiten wie diesen, wenn selbst durchschnittliche Miike-Streifen zumindest einen Videoverleiher finden, darf man das Gesamtwerk wirklich spannender japanischer Kollegen wie Kurosawa oder auch Hirokazu Kore-eda und Shinji Aoyama jedenfalls nicht mehr ignorieren.

Michael Kienzl

Filmfest München 2005


(25. Juni-2. Juli 2005)

 

Links:

Where have all the flowers gone?

(Kiyoshi-Kurosawa-Porträt aus dem Jahre 2000)


Die Filme Kiyoshi Kurosawas, oder: Ein Racheengel auf der Suche nach dem tieferen Sinn. Jürgen Fichtinger porträtiert einen der wichtigsten japanischen Regisseure der Gegenwart.

 

Links:

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