Stories_Cannes 2015 - Rückblick

Great Expectations ...

Nach dem Vorgeschmack folgt der Rückblick: Michael Kienzl berichtet über seine Eindrücke von den Filmfestspielen in Cannes - und von fetten Franzosen sowie mangelnder Revolution.    01.06.2015

Man rechnet mit vielem, wenn Isabelle Huppert und Gérard Depardieu als fiktive Versionen ihrer selbst durchs Death Valley marschieren - am wenigsten aber mit einem Wunder. Und doch zeigt uns Regisseur Guillaume Nicloux am Ende seines neuen Films genau das (oder deutet es zumindest an). 

Valley of Love zählte zu jenen Wettbewerbsfilmen in Cannes, die eigentlich von Anfang an keine Chance auf einen Preis hatten. Tatsächlich entschied sich die Jury um die Brüder Joel und Ethan Coen letztlich gegen das Übersinnliche und für die soziale Relevanz, die sie in Jacques Audiards Einwanderer-Drama "Dheepan" zu finden glaubte. Aber auch wenn "Valley of Love" vielleicht nur ein kleiner und unauffälliger Film ist, den Großteil des heurigen Wettbewerbs konnte er ohne Probleme in den Schatten stellen. Nicloux erzählt darin von einem Paar, das sich nach Jahren der Trennung wiederbegegnet, weil es der tote Sohn in seinem Abschiedsbrief so wollte. Da es sich dabei auch um das Aufeinandertreffen zweier Giganten des europäischen Kinos handelt, scheint das ironische Spiel mit dem eigenen Ruhm vorprogrammiert zu sein. Eigentlich interessiert sich Nicloux jedoch weniger für das Image seiner Schauspieler als für ihre Körper und deren Unzulänglichkeiten. Auf der einen Seite haben wir die kleine, zerbrechliche Huppert, auf der anderen den Fels Depardieu, der den halben Film ohne T-Shirt zu sehen ist und seine Leibesfülle mit großer Erhabenheit präsentiert. Beide geraten ständig an ihren Grenzen, schwitzen, keuchen, streiten sich, resignieren - und fangen wieder von vorne an. Am Ende kommen dann Zeichen aus dem Jenseits, die sich rational nicht greifen lassen. Gerade das Unerklärliche, das sich hier in einen Film schleicht, dem es auf den ersten Blick nur um ein Spiel mit der Wirklichkeit geht, macht "Valley of Love" zu einem sehr bemerkenswerten Erlebnis.

 

 

In Cannes gab es dieses Jahr zahlreiche Gelegenheiten zum Träumen. Besonders abseits von geläufigen Genreformeln ließen viele Filme den drögen Realismus hinter sich und öffneten dafür die Pforten zu anderen Welten. Um das genießen zu können, mußte man nur die Fähigkeit haben, zu glauben - nicht an Religion oder Esoterik, sondern einfach an die Macht eines Kinos, das Geschichten erzählt, ohne sich von den Grenzen der Plausibilität einengen zu lassen.

Das konnte man in diesem Jahr insbesondere in den wieder außergewöhnlich starken Beiträgen aus Asien: Kiyoshi Kurosawa schickte etwa einen Toten zurück zu seiner vereinsamten Frau; Jia Zhang-ke ließ den Ruf eines Jungen von Australien bis nach China erklingen; und Apichatpong Weerasethakul ist ja ohnehin ein Meister, wenn es darum geht, sein Publikum mit vielschichtigen Tagträumen in eine beglückende Trance zu versetzen. Cemetery of Splendour ist nicht nur sein stärkster Film seit langem, sondern auch vergleichsweise zugänglich. Was mit einer ambivalenten Beziehung zwischen einer Hausfrau und einem Soldaten beginnt, entwickelt sich mit der Zeit zu einer humorvollen Reflexion über Mythen der Vergangenheit und die Gegenwart in einer Militärdiktatur. Dabei verliert sich Weerasethakul immer wieder in der Abstraktion und hypnotisiert sein Publikum so lange mit bunten Leuchtstäben und rotierenden Ventilatoren, bis es sich schließlich auch nicht mehr wundert, wenn sich ein Waldstück in den Palast eines längst verstorbenen Königs verwandelt.

 

 

Weerasethakul wäre eigentlich ein klarer Anwärter für die Goldene Palme gewesen. Nur zu dumm, daß sein Film gar nicht im Wettbewerb lief. Zwar setzte Festivalleiter Thierry Frémaux heuer auf einige weniger bekannte Namen, von einem Wagnis kann man bei der Auswahl aber mitnichten sprechen. Um es auf den Punkt zu bringen: Der Wettbewerb von Cannes braucht wieder Eier - und das soll nun keineswegs bedeuteten, daß zukünftig noch weniger Filme von Frauen laufen sollen. Gerade bei den Regisseurinnen scheint das Problem in der Verteilung zu liegen. Was haben zum Beispiel nicht sonderlich spannende Filmemacherinnen wie Valeria Bruni-Tedeschi oder Maiwenn im Wettbewerb zu suchen, während man auf Namen wie Pascale Ferran, Claire Denis oder Céline Sciamma nur in den Nebensektionen trifft? Besonders provokative, spröde und experimentierfreudige Filme, wie sie früher gerne in Cannes gezeigt wurden und heute eher in Locarno zu sehen sind, sucht man im Hauptprogramm des Festivals vergeblich.

 

 

Mit Son of Saul wurde immerhin ein spannender Erstlingsfilm vorgestellt, der vor allem durch sein strenges formales Konzept zu beeindrucken wusste. Der ungarische Regisseur László Nemes folgt darin einem Mitglied des jüdischen Sonderkommandos aus nächster Nähe. Man sieht den Protagonisten, wie er im Vernichtungslager Auschwitz schuften muß, von Nazis schikaniert wird und sogar seine eigenen Leute ins Gas schickt. Das Grauen spielt sich dabei zwar meistens im Hintergrund ab, ist aber durch eine höllisch lärmende Tonspur ständig präsent. Eine Frage läßt sich bei Nemes´ Ansatz nie ganz beantworten: Ist es wirklich eine Bereicherung für das Kino über den Holocaust, wenn der Massenmord plötzlich zum Event wird, das der Zuschauer hautnah miterleben kann? Doch auch ein Gegenargument ist schnell gefunden, denn nur die fehlende Distanz macht es möglich, daß "Son of Saul" so unerbittlich und traumatisierend den Schrecken vor Augen führt.

Bemerkenswert an Nemes´ Debüt war aber noch etwas ganz anderes: Auf einem technisch ansonsten durch und durch modernisierten Festival sorgte er für einen kleinen analogen Hoffnungsschimmer. Filme werden hier zwar teilweise noch auf Film gedreht, projiziert werden sie aber nur noch als DCPs. Wie wenig sich Cannes für die Bewahrung des Zelluloids interessiert, davon kann man sich jedes Jahr aufs neue in der lieblos zusammengewürfelten Reihe "Cannes Classics" überzeugen, die eigentlich nur dazu dient, die neuesten digitalen Restaurierungen vorzustellen. Wenn dann im Wettbewerb ein Film nicht nur auf 35 mm gedreht wurde, sondern auch gezeigt wird, ist das schon eine kleine Revolution.

 

 

Eine größere Revolution hatte so mancher von Gaspar Noés neuem Film Love erwartet - einer ebenso epischen wie banalen Liebesgeschichte, in der nicht nur reichlich Tränen fließen, sondern auch Hardcore-Sex in 3D zu sehen ist. Die erste Enttäuschung ist, daß der bekanntermaßen großspurige Regisseur recht wenig mit seinem technischen Gimmick anzufangen weiß. Was wäre es zum Beispiel für eine Sensation gewesen, wenn ein gigantischer Cumshot den Kinosaal geflutet hätte. Doch "Love" ist ein in vielfacher Hinsicht sehr bescheidener Film, linear erzählt und fast klassisch gefilmt, also ganz ohne die visuellen Extravaganzen von "Irreversible" und "Enter the Void".

Die Handlung dreht sich um ein verzogenes amerikanisches Söhnchen, das in Paris nach der großen Liebe sucht und in einer leidenschaftslosen Ehe landet. Inspiriert ist die Geschichte von den Erfahrungen des Regisseurs, weshalb es auch nicht an Anspielungen mangelt. So möchte der junge Held einmal seinem Schöpfer nacheifern und Filme machen, die aus Blut, Tränen und Sperma bestehen. Zunächst muß er sich aber mit einem Sohn herumplagen, der Gaspar heißt und mit einem Nebenbuhler, der auf den Namen Noé hört. Wie ernst sich der Filmemacher dabei nimmt, wird nie ganz klar. Es gibt zwar immer wieder kurze ironische Brechungen, aber dann auch wieder ganz viel Gewinsel über verletzten männlichen Stolz.

Durch seinen Größenwahn und den Mut zur Peinlichkeit entwickelt "Love" durchaus einen gewissen Charme, der den Film aber bei weitem nicht über seine 130 Minuten Laufzeit tragen kann. Und pornographisch ist das Ganze übrigens ebenso wenig wie Lars von Triers deutlich raffinierterer "Nymphomaniac". Dafür, daß Noé anscheinend eine ziemliche Angst vor Schwänzen hat - ein traumatisches Erlebnis mit einem Transsexuellen treibt den Protagonisten an den Rand der Verzweiflung -, interessiert er sich komischerweise fast ausschließlich für den männlichen Körper, während die Frauen meist nur dekorativ an den Rändern der Bilder drapiert werden.

 

 

Als eine Art Gegenstück zu "Love" kann man Todd Haynes Carol sehen, der nicht nur das weibliche Begehren ins Zentrum rückt, sondern ausnahmsweise auch die Männer als hoffnungslose Hysteriker zeichnet. Haynes konzentriert sich auf die Liebesgeschichte zwischen einer Dame aus der oberen Gesellschaft und einer jungen Photographin. Im Gewand eines klassischen Melodrams gleitet die Kamera an spiegelnden Oberflächen und Modelleisenbahnen entlang und zeigt dadurch, daß der Blick in eine detailliert rekonstruierte Vergangenheit zwangsläufig ein Blick in die Puppenstube bleiben muß. Letztlich geht es jedoch weniger darum, die Vintage-Ausstattung zu bewundern, als ein Versäumnis der Vergangenheit nachzuholen. Haynes dreht ein Melodram in der Ästhetik der 1950er Jahre, weil das damals in dieser Offenheit nicht möglich gewesen wäre. Interessant an dem Film ist aber weniger die Tatsache, daß es schwierig für lesbische Frauen war, in dieser Zeit zu leben, sondern wie es ihnen schließlich doch möglich war. Dabei entwickelt "Carol" ein besonderes Gespür für die Feinheiten bei der gegenseitigen Annäherung. Ein verbotener Flirt war damals schlichtweg harte Arbeit. Bis die beiden Heldinnen endlich Sex miteinander haben, ist der Film fast schon wieder vorbei.

 

Obwohl in diesem Jahr Todd Haynes und Gus Van Sant die einzigen amerikanischen Regisseure im Wettbewerb waren, wurde dort so viel Englisch gesprochen wie nie zuvor. Doch wer bei den internationalen Debüts von Regisseuren wie Yorgos Lanthimos, Joachim Trier oder Matteo Garrone die Hoffnung hatte, sie könnten ihre Position im Weltkino auch mit Stars und größeren Budgets verteidigen, wurde auf den Boden der Tatsachen zurückgeholt. Was man letztlich zu sehen bekam, war kein Kino der besseren Möglichkeiten, sondern ein Kino der Kompromisse. Umso besser, daß es noch Regisseure wie Hou Hsiao Hsien gibt, die ihre Handschrift sogar verteidigen können, wenn sie sich auf neues Terrain begeben. Mit The Assassin hat Hou seinen ersten Wuxia-Film gedreht - und triumphiert, weil er es versteht, die Regeln des Genres sowohl zu befolgen als auch auch auf kluge Weise zu unterlaufen.

 

 

Wofür sich "The Assassin" besonders interessiert, ist nicht nur ein betont weiblicher und damit auch empfindsamer und pazifistischer Blick auf das Genre, sondern auch all die kleinen Attraktionen, die sich jenseits von Kampfszenen und melodramatischen Konfrontationen abspielen. Seine Figuren läßt er ungewöhnlich lange mit Schmetterlingen spielen, vom sanften Hauch des Windes umschmeicheln oder sich wild zur Musik im Kreis drehen. Um die Handlung von der Killerin Yinnang, die den Mann töten muß, der ihr einst versprochen wurde, ganz zu durchschauen, muß man den Film ohnehin mehrere Male sehen. Freude haben kann man dabei aber immer wieder, nicht zuletzt an den unglaublich schönen, in allen möglichen Farben schillernden Bildern. Mit "The Assassin" hätte Cannes eigentlich den idealen Anwärter für die Goldene Palme gehabt: einen Film mit Profil, für den ein Preis auch der Schlüssel zu einem größeren Publikum gewesen wäre. Stattdessen wurde Hou lediglich mit der Auszeichnung für die beste Regie abgespeist. Um starke Filme bei einem Festival sichtbar zu machen, gehören eben zwei dazu: ein Festival, das sie auswählt, und eine Jury, die sie angemessen dafür auszeichnet.

Michael Kienzl

Festival de Cannes 2015


13. bis 24. Mai 2015

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