Platten_Mortiis - The Grudge

Hexenmärchen

In den tiefen Wäldern Norwegens lebte einst ein Troll, der Musik machte - in depressiver Laune schöne Klanggemälde, in wütender elektronische Blitzkriegattacken.    12.09.2004

Der norwegische Exzentriker Mortiis begann mit sphärischen Instrumentalalben, bis er selbst eine "Era 2" einläutete und das Mikrophon in die Hand nahm. Das Ergebnis war sein 2001er-Meisterwerk "The Smell of Rain".

Fast auf den Monat genau folgt nun, vier Jahre danach, "The Grudge", sein zweites Album mit Gesang. Es ist ein weiterer Schritt nach vorne, möglicherweise in eine "Era 3" - schließlich sind Mortiis in der Zwischenzeit zu einer waschechten Band herangewachsen. Dennoch klingt die Platte wegen der überhandnehmenden Elektronik mehr denn je wie das Werk eines Solokünstlers. Fanden sich auf "The Smell of Rain" noch großartige Songs wie das bombastische "Marshland", die uns für einige Minuten eine Pause von den elektronischen Uptempo-Tracks verschafften, so sind diese Momente auf dem vorliegenden Album nur mehr in den Liedern selbst zu finden. Bestes Beispiel und gleichzeitig unumstrittenes Highlight des Albums ist der Opener "Broken Skin": Was sich da wie ein aus zwei NIN-Stücken zusammengewürfelter Titel liest, klingt auch musikalisch so. Treibende Beats werden von verzerrten Gitarren unterstützt, und Mortiis fährt bis zum Refrain auf Vollgas. Dann plötzlich Pause - und der Chorus könnte von Pink Floyd aus deren "Era 1" stammen, also noch mit Roger Waters.

In seinem Versteck in den Wäldern hört der koboldhafte Norweger ganz gern Skinny Puppy, Ministry und Nine Inch Nails. Enigma wohl nicht mehr so sehr, denn das Ergebnis seiner Musik sind meist Tracks voll Break-lastiger Beats, verzerrtem Gesang und Gitarren, die eigentlich Maschinengewehre werden wollen, wenn sie groß und stark sind. All das läßt selten Zeit für Gefühl. Man könnte glauben, Mortiis sei ein sauharter Kerl, wenn man die neue Platte hört. Daß ein wirklich feinsinniger Mensch hinter der Koboldmaske steckt, wird einem auf dem neuesten Output selten bewußt. Da muß man sich schon eher "Everyone Leaves" oder "You Put A Hex On Me" auf dem Vorgänger anhören.

Erst mit "The Loneliest Thing" kehrt der Troll seine epische Seite hervor, und man findet es auf eine eigenartig selbstsüchtige Weise schade, daß Mortiis´ depressive Phase vorbei ist und sich in Wut gewandelt hat. So ist "The Grudge" vor allem etwas für Leute geworden, die kalten, harschen Industrial und EBM mögen. Der ist aber immerhin um Klassen besser als das, was die Lieblings-Bands des maskierten Herrn heutzutage produzieren.

 

 

Milan Knezevic

Mortiis - The Grudge

ØØØ


Earache/SPV

(Norwegen/13. 9. 2004)

 

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