Editorial_7. 11. 2005

Wenn das Humankapital nicht spurt ...

Statt fröhlich dahinvegetierend die "Marseillaise" zu pfeifen, liefern sich Frankreichs Jugendliche derzeit lieber Straßenschlachten. Ein Statement gegen den Kapitalismus?    10.11.2005

Liebe EVOLVER-Leser und –innen!

 

Französische Jugendliche, vornehmlich arabisch-muslimisch-stämmige Einwanderer-Nachkommen der zweiten und dritten Generation, verüben überall in ihrer Heimat Nacht für Nacht Brandanschläge auf Autos und zivile Einrichtungen. Etwa ein Dutzend Städte Frankreichs sind bisher betroffen. Paris brennt seit gut zwei Wochen.

Scheint irgendwie sinnlos. Warum tun die das? Vermutlich befinden sich diese Jugendlichen - bei Frankreichs Innenminister heißen sie "Abschaum" - in einem Strudel der Chancenlosigkeit. Sie werden vom kapitalistischen System quasi im Armensektor gefangengehalten. Wahrscheinlich kennen sie keine bessere Möglichkeit, auf ihre beschissene Lebenssituation aufmerksam zu machen. Aber ist ihr nächtliches Treiben wirklich, wie das "Time Magazine" meinte, ein neuer Mai 1968, diesmal in den "banlieues", den Außenbezirken von Paris? Oder ist dieser heiße Herbst 2005 vielleicht alles andere als eine existentialistisch-bourgeoise Samtrevolution - sondern vielmehr eine Eruption destruktiver Ghetto-Gewalt gegen alles, was nach heiler kapitalistischer Welt riecht?

Saubere Kinder mit guter Schulbildung, Badespaß im öffentlichen Swimming-Pool, mit dem Leasing-Minivan rumkutschieren - mittelschichtige Eskapaden dieser Art haben rein gar nichts mit der sozialen Realität zu tun, in der diese Menschen leben müssen. Da sie über Generationen aus der Konsumgesellschaft ausgeschlossen und höchstens für Drecksarbeit auf niedrigstem Lohnniveau in Betracht gezogen wurden, erscheint den zornigen Jugendlichen ein Mittelschichtler als reicher Bonze und sein Besitztum als Feindbild. Berechtigterweise: Immerhin gibt jeder einzelne von uns Mittelschichtlern, die wir hier gemütlich im Internet surfen, wahrscheinlich deutlich mehr als die Hälfte seines gesamten Geldes für die Erhaltung dieses Systems aus - nicht gerade unwillig, aber selbstverständlich ungefragt, weil die Großkapitalisten sich uns mit Gen-Powerfood, Designer-Medikamenten und gekaufter Steuerpolitik erfolgreich zu fetten, willenlosen Sklaven herangezogen haben. Und das zeitigt jetzt eben fatale Konsequenzen.

Strategien, um die systematische Kapitalbunkerei zu unterbinden und das unweigerliche Versinken des Westen in chaotisch-krimineller Anarchie zu stoppen, gibt es längst. Die unwiderstehlichste datiert paradoxerweise auf Frankreich 1994 und heißt ATTAC (zu finden unter http://www.attac.de/ueber-attac/was-ist-attac/). Daß sie bald greifen wird, kann man nur hoffen. Sicher ist aber, daß der heutige Kapitalismus in allerspätestens 100 Jahren als eine überaus barbarische Erfindung selbstgerechter, hemmungslos gieriger Verbrecher im Geschichtsbuch stehen wird, gleich hinter den Nazis, Stalin oder Pol-Pot. Das ist keine Verschwörungstheorie, sondern die dreckige Wahrheit. Sklaverei sei verboten, sagen Sie? Keinesfalls: Alle Regeln der modernen Sklaverei finden Sie zum Beispiel im österreichischen Gesetzbuch.

Im EVOLVER hingegen finden sie nur total unkapitalistische, völlig unzensurierte und nicht dem Wachstums- und Renditegedanken unterworfene Neuigkeiten aus der Welt der Popkultur.

 

In diesem Sinne: Viel Spaß beim Lesen wünscht

 

Klaus Hübner

(EVOLVER-Herausgeber und -Chefvandale)

 

Klaus Hübner

EVOLVER-Newsletter


Sollten Sie unser Editorial gleich bei Erscheinen lesen wollen, empfehlen wir das Abonnieren unseres Newsletters.

 

Links:

Kommentare_

Print
Edward Anres - Nelly und Pan

Der Gott des Irrsinns

Der Debütroman des Deutschen Edward Anres, Neuentdeckung des österreichischen bildmanufaktur-Verlags, ist eine literarische Apotheose in jeder Deutungsvariante: Der Roman erzählt die Geschichte zweier Verrückter, die sich in der Psychiatrie treffen und genau das Verkehrte tun - aber mit der sexuellen Kraft von Donnergöttern und einer Intensität, die beim Lesen schwindelig macht.  

Print
Robert Hübner – kunst werk bild

Wovon man redet, wenn man "Kunst" sagt

Der Maler und Digitalkünstler Robert Hübner, langjähriger Mitarbeiter der Linzer Kunsthochschule, legt mit seiner ersten Wissenschaftspublikation einen Meilenstein der kontemporären Kunsttheorie vor: eine lange überfällige akademische Neustrukturierung des Kunstbegriffs, quasi als Anpassung an die zeitgenössische Realität.  

Video
The Strain

Saugschwengel-Apokalypse

Gegen "The Strain", die Vampir-TV-Serie unter der Schirmherrschaft von Guillermo del Toro, sieht "The Walking Dead" blaß aus. Das Team des Mexikaners schafft einen neuen Rekord beim Qualitätsniveau im Genrefernsehen, wie Klaus Hübner findet.  

Stories
Reisebericht Zypern, Nachwort

Are you talking to me?

Klaus Hübners Reisebericht über seine Abenteuer auf Zypern hat uns einige unzufriedene Kommentare beschert. Jetzt nimmt er dazu Stellung.  

Stories
Reisebericht Zypern, Teil III

Dünen, Wildesel und Polyesterschnitzel

Weitab vom verblassenden Trubel des Massentourismus gibt es in Zypern ein Stück dessen zu entdecken, was vom Paradies übrig ist: einen Traumstrand, wo die Riesenschildkröten ihre Eier ablegen - zwischen Tonnen von Plastikmüll. Dritter und letzter Teil des Zypern-Reiseberichts.  

Stories
Reisebericht Zypern, Teil II

Die Einheimischen und die Krise

Im zweiten Teil des Zypern-Reiseberichts unterhält sich Klaus Hübner mit den Besitzern einer Taverne in Protaras und mit seinen AirBnB-Vermietern - allesamt direkte Leidtragende des Zusammenbruchs des hiesigen Kreditwesens.