Editorial_27. 1. 2010

Schafft die Helme ab!

Abrüstung ist gut für souveräne Staaten, scheint sich der gemeine Freizeitsportler zu sagen, aber nicht für mich. Wir plädieren für ein Helmverbot ...    01.02.2010

Wie man hört und liest, ist das jüngste Zielobjekt behördlicher Regulierungsbedürfnisse der Kopf - genauer gesagt, der des Schifahrers. Wintersportler sollen in naher Zukunft zum Tragen von Helmen verpflichtet sein. (Erwachsene, wohlgemerkt; Minderjährigen ist die unbehelmte Teilnahme an Schikursen sowieso längst verboten. Nun, Eltern würden sich wahrscheinlich nicht einmal mehr über ein Gesetz zum Tragen karbonfiberverstärkter Unterwäsche wundern, damit sich die armen Kleinen beim Turnen nicht wehtun; Schwimmen scheint eine der letzten Sportarten zu sein, die der Nachwuchs ohne Panzerung ausüben darf.)

Schutzwesten für Reiter, Rückenprotektoren für Rollschuhfahrer, Helme für Eisläufer - man fragt sich, wie Homo sapiens bloß die letzten 160.000 Jahre überlebt hat. Mag sein, daß Schlittschuhe gefährlicher sind als Wölfe; aber wie haben wir ohne Sicherheitsleinen die ganze Baumkletterei überstanden? Ganz zu schweigen von der Frage, wie wir jemals ohne GPS-Handy aus dem Wald herausgefunden haben, doch dazu später ...

Nun steht uns also die Helmpflicht für Schifahrer bevor. Und eigentlich ist das alles gar nicht so lustig. Sieht man von Motorradfahrern und einigen Berufen ab, wäre ein generelles Helmverbot nämlich wesentlich sinnvoller. Rüstungsartige Applikationen befriedigen zwar die kindliche Lust am Verkleiden - gefördert durch die fortschreitende Infantilisierung unserer Gesellschaft - und bescheren vor allem den Herstellern beachtliche Gewinne; effektiv schaden sie jedoch mehr, als sie nützen.

Ein Blick auf die Fakten: Helme schränken das Gesichtsfeld ein und beeinträchtigen das Gehör. Ihr Gewicht stellt, gerade auch bei Stürzen, eine gefährliche Belastung von Nackenmuskulatur und Halswirbeln dar. Zugleich vermitteln sie dem Träger ein Gefühl scheinbarer Sicherheit, das ihn zu unvorsichtigem Fahrverhalten verleitet. Ein aktuelles Beispiel dafür ist Dieter Althaus, der vor einem Jahr die Kontrolle über seine Schi verlor und fahrlässig eine Sportlehrerin tötete. Aus dem Unfallhergang die Notwendigkeit von Helmen abzuleiten, wie es derzeit geschieht, gemahnt an einen Schildbürgerstreich.

Tatsächlich hat ihr der Deutsche mit seinem Helm den Schädel eingeschlagen. Hätte er zum Beispiel eine Wollmütze getragen, wäre die Frau mit großer Wahrscheinlichkeit noch am Leben. (Womöglich wäre es dann gar nicht erst zu dem Zusammenstoß gekommen; im Hinblick auf die eigene Sicherheit hätte er seine Fahrkünste vielleicht realistischer eingeschätzt und das Tempo rechtzeitig reduziert - aber derlei bleibt natürlich Spekulation.) Richtig ist, daß die Verletzungen der Frau auch geringer ausgefallen wären, hätte sie ihrerseits einen Helm getragen. Eine derartige Logik impliziert jedoch, daß die Mehrheit bei Todesdrohung gezwungen wird, den Rüstungswettlauf jener mitzumachen, die sich stets das neueste Spielzeug kaufen.

Schistöcke für Fußgänger etwa sind - auch vom orthopädischen Standpunkt aus betrachtet - völlig überflüssig, aber immerhin harmlos (vom Müllproblem einmal abgesehen). Fahrradhelme mögen Rennsportlern aerodynamische Vorteile bringen, als Schutz vor Freizeitverletzungen sind sie jedoch ungeeignet; typische Sturzblessuren betreffen hier Gesichts- und Kieferbereich. Auch seitlich nützen die Styroportöpfchen wenig, da sie bei grober Krafteinwirkung verrutschen - und im präzisen 90-Grad-Winkel, Kopf voran, fällt man eher selten vom Rad.

Allerdings schmeicheln sie, ebenso wie der Rest der zugehörigen Accessoires, dem Ego des Besitzers. Verkleidungen halfen immer schon, Angst und Minderwertigkeitsgefühle zu kompensieren: Die bunte Uniform wird zum Harnisch, in dessen scheinbarer Geborgenheit der Träger über sich hinauszuwachsen vermeint. (Heute kann man keine halbe Stunde im Wald spazieren, ohne sich vor in voller Montur daherrasenden "Mountainbikern" in Sicherheit bringen zu müssen.)

Es stellt sich dabei die Frage, wozu manche Spaßgesellschafter überhaupt ihre Büros und Spielkonsolen verlassen - von der Natur bekommen sie so ohnehin nichts mit. Zumal es ihrerseits gar nicht erwünscht wäre: Selbst Autos sollen ja, schallgedämmt und mit vielen bunten Bedienelementen, die Umwelt möglichst auf ein "Game" mit sechs umlaufenden Bildschirmen reduzieren. Satellitengeortet und iPhone-vernetzt wagt sich längst jeder Schrebergärtner in ferne Länder; mit Titanbügel-Sonnenbrille und 28-Gang-Shimano meint jede Hilfsbuchhalterin, ungestraft querfeldein fahren zu dürfen; mit Railflex-Bindung und Glasfaserkopfschutz glauben sogar Deutsche, Buckelpisten bewältigen zu können ... eine trügerische Sicherheit, die rücksichtsloses Verhalten fördert. Denn wer meint, sich nicht verletzen zu können, wird kaum lernen, sich umsichtig zu bewegen. Wer seine Umgebung nur durch einen Kokon wahrnimmt, verliert den Bezug - und wird zu einer Gefahr für sich und andere.

Zugegeben, es wäre kaum praktikabel, Freizeitsport nackt auszuüben, etwa so, wie die Athleten des antiken Griechenland zu trainieren pflegten. (Die Germanen wiederum sollen die römischen Soldaten im Gebirge dadurch demoralisiert haben, daß sie vor den Frierenden auf blankem Gesäß die verschneiten Hänge hinunterrutschten; eine interessante Vorstellung, wenngleich als Alternative zu Schiern heute wohl schwer vermittelbar.)

Ein Helmverbot jedoch würde immerhin wieder zu etwas mehr Vorsicht zwingen - und nebenbei für eine gewisse natürliche Selektion sorgen: Wer Angst hat, hinzufallen, bleibt vielleicht ohnehin besser daheim. Mangelndem Können hingegen mit immer neuen Schutzverordnungen abhelfen zu wollen, ist widersinnig; damit erreicht man nur, daß noch mehr ahnungslose Wohnzimmersportler die Natur unsicher machen.

Aber womöglich sind das unnötige Sorgen. Wenn wir dereinst alle in vorschriftsmäßigen Robocop-Rüstungen herumlaufen, wird die Industrie gewiß schon Helme mit Abstandswarner-Display im Visier zur Serienreife gebracht haben, samt freundlicher Navi-Stimme aus den integrierten Lautsprechern ("Jetzt, bitte, nach rechts schwingen ... "). Und natürlich mit serienmäßigem Hirn-Airbag.

Marcus Stöger

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