Kino_Der Mann ohne Vergangenheit

Depression und Hoffnungsschimmer

Ein halbes Jahr ohne Sonne ist ein halbes Jahr ohne halbnackte Kretins auf den Straßen. Eigentlich sollten die Finnen schon darüber froh sein. Aber leider haben sie - wie Kaurismäki immer wieder zeigt - ganz andere Sorgen.    31.10.2002

Ein Mann kommt frohgemut in Helsinki an, wo er gleich einmal ordentlich verdroschen wird, und zwar so heftig, daß er sein Gedächtnis verliert. Aller Besitztümer beraubt, stellt sich ihm der typisch westliche Verwaltungsapparat als unüberwindliche Hürde entgegen; ohne Namen, Paß und ein Bewußtsein der eigenen Fähigkeiten bekommt er weder einen Job noch eine Wohnung. Unaufhaltsam wird er an die Peripherie der Stadt gedrängt; nur die Obdachlosen nehmen ihn auf. Die unterste Stufe der Gesellschaft, wo nichts mehr zu verlieren ist, wird sein Basislager für einen zaghaften Neuanfang. Schrittweise macht er sich daran, sein neues Leben aufzubauen. In Finnland, zumindest innerhalb des Polarkreises, gibt es ein halbes Jahr lang zu wenig und ein halbes Jahr lang gar keine Sonne. Das, so wissen wir mit ziemlicher Sicherheit, hält unter den Österreichern nicht einmal der erbittertste Schönwettergegner dauerhaft aus. Die Finnen aber leben damit - mag sein, daß sie alle saufen und Serotonin-Präparate nehmen, aber wer tut das heutzutage nicht? Den Grund dafür, daß sie trotzdem florieren, findet man im Kern aller Kaurismäki-Filme: eine unwiderstehliche Schönheit und Wahrhaftigkeit, die man nicht mit Worten beschreiben kann, weil sie sich ausschließlich auf der Gefühlsebene abspielen. Kaurismäki war für diesen Film 2002 für die Goldene Palme von Cannes nominiert, erhielt aber "nur" den Großen Preis der Jury und den Preis der ökumenischen Jury; Kati Outinen wurde zur besten Hauptdarstellerin gekürt.

Klaus Hübner

Der Mann ohne Vergangenheit

ØØØØ

(Mies vailla mennesyyttä)


Finnland 2002

97 Min.
dt. Fassung u. engl. OF
Regie: Aki Kaurismäki
Darsteller: Sakari Kuosmanen, Juhani Niemelä, Kati Outinen u. a

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